Kapitel 12 - Rückweg

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Ich versuche nur auf den Zeiger zu sehen, aber ich spüre alle Blicke auf mir. Yuudai steht auf und scheint irgendetwas zu sagen, doch ich höre nur ein Klingeln in meinen Ohren. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie er mit den Armen herumwedelt und zeigt auf den toten Mann und mich. Wenn wir die Regeln nicht befolgen, sterben wir. Ich nehme das Glas und trinke es zitternd bis zum letzten Tropfen aus. Ich stelle das Glas wieder auf seinen Platz und warte. Meine Kehle brennt, aber nicht mehr als von dem Tequila. Vorsichtig schaue ich auf und sehe, dass alle mich erwartend ansehen.

"Wie- wie geht es dir?", fragt Yuudai zaghaft und legt seine Hand beruhigend auf meine Schulter. Ich atme angespannt aus, doch alles scheint normal zu sein. 

"Ich denke, mir geht es gut"

Der bittere Geschmack lässt mich zusammenzucken und ich verziehe das Gesicht. Aber ich lebe noch. Die anderen spielen weiter, aber ich kann die besorgten Blicke sehen. Meine Brust zieht sich zusammen und aus Reflex renne ich zu einem Mülleimer in der Ecke. Ich muss mich übergeben und eine Träne löst sich und läuft über meine Wange. Ich bekomme eine Gänsehaut und fange an, am ganzen Körper zu zittern. Ich sacke zusammen und lehne mich an die Wand. Ich schließe meine Augen und versuche mich zu beruhigen, aber als ich nach rechts sehe, blicke ich auf den Toten. Ich drehe mich wieder zum Eimer und übergebe mich erneut. Langsam stehe ich auf und torkle zurück zum Tisch. Es geht mir wieder besser, denke ich jedenfalls. Ich setze mich auf meinen Platz und fahre mir durch die Haare. Niragi sieht mich fragend an, doch ich nicke nur.

"Geht wieder"

Während wir weiter spielen, habe ich das Gefühl, dass alle Farben intensiver werden. Ich fühle mich wie in einer Seifenblase und ich sehe einen leichten, rosa Schimmer. Ich verliere jegliches Zeitgefühl und aus dem rosa Schimmer wird ein Regenbogen. Ich spüre, wie sich Schweiß auf meiner Stirn bildet und meine Atmung schwerer wird. Der muskulöse Mann mir gegenüber verdreht die Augen und bricht auf dem Tisch zusammen. Einige seiner Muskeln zucken immer noch, aber er scheint bewusstlos. Als ein Laser durch seinen Kopf geht, werde ich geblendet und von der Wunde an seinem Kopf läuft eine blaue Flüssigkeit. Verwirrt starre ich auf die Farbe und strecke meine Hand aus. Es fühlt sich warm an und meine Hand wird blau gefärbt. Fasziniert sehe ich auf meine Hand und werde von Yuudai aus meinen Gedanken gerissen.

"Sayuuri?"

"Warum ist es blau?"

Alle sehen mich verwirrt an, doch ich kann meinen Blick einfach nicht von meiner Hand abwenden. 

"Was redest du da, dass ist sein Blut. Es ist rot", meint der letzte Fremde am Tisch. Ich zucke zusammen und starre ihn ungläubig an. Niragi greift sich das Glas, aus welchem ich getrunken habe und riecht vorsichtig daran.

"Natürlich", meint er und legt seine Hand auf meine Stirn. Ich fühle mich nicht wirklich wie ich selbst, weshalb ich bei seiner Berührung auch nicht zurückschrecke. Seine Hand ist eiskalt und das scheint meiner Stirn gut zu tun. 

"Ein Halluzinogen, wahrscheinlich Ayahuasca"

Meine Augenlieder werden schwerer, aber das Farbenspiel ist einfach zu schön, um meinen Blick abzuwenden. Ich sehe hinter Yuudai plötzlich eine Gestallt. Sie ist verschwommen, aber ich erkenne ihn. Es ist, wie als würde ich einen Geist aus meiner Vergangenheit sehen.

"Light?", kommt es flüsternd aus meinem Mund und ich spüre, wie eine Träne herunterläuft. Er lacht herzlich und sieht mich liebevoll mit seinen eisblauen Augen an. Wie sehr habe ich ihn vermisst. Mein Herz macht einen Satz und meine Wangen beginnen zu glühen.

"Du musst wach bleiben", sagt er und kommt einige Schritte auf mich zu. Ich würde am liebsten aufspringen und ihn umarmen, aber es wirkt einfach zu surreal. Seit ich in dieser Spiegelwelt bin, habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ihm gehörte die Jacke, die ich mit aus den Umkleiden der Universität mitgenommen habe. Ich merke erst jetzt, wie sehr er mir gefehlt hat. Meine Kehle schnürt sich zu und ich spüre eine Enge in der Brust. Ich weiß er kann nicht hier sein, doch ich kann meinen Blick einfach nicht von seinen Augen lösen. 

Alice in BorderlandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt