Kapitel 36 - Guten Morgen

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Müde schlage ich meine Augen auf und ziehe die Decke weiter hoch. Die Uhrzeit zeigt an, dass es erst elf Uhr am Vormittag ist, doch dem Licht von dem Fenster nach zu urteilen könnte es auch noch früher sein. Gewitterwolken haben sich am Himmel gebildet und mir wird augenblicklich kälter. Ich drehe mich mit einem Seufzer zur Seite und erschrecke leicht, als ich die weißblonden Haare erkenne. Chishiya schläft noch und seine Augen sind seelenruhig geschlossen. Er sieht so friedlich aus, seine sanften Gesichtszüge und die regelmäßigen Atemzüge.

Doch als ich spüre, wie meine Wangen leicht zu glühen beginnen, wende ich meinen Blick ab und drehe mich um. Hatte Norikita wirklich recht? Er ist anscheinend letzte Nacht neben mir eingeschlafen und es ist ein seltsames Gefühl. Zum einen brennen meine Augen von dem weinen und ich kann sie kaum offenhalten, zum anderen entspannt mich die Tatsache, dass er hier neben mir liegt ungemein.

Diese Nacht hatte ich zum ersten Mal keine Alpträume. Nicht von dem Mann, welcher mich auf den Waldboden drückte, während er mit seinem Messer einer Botschaft einritzte. Nicht von der Frau mit der Maske, welche ich erschossen habe. Ich zucke für einen Moment zusammen, als sein Arm sich leicht um mich und meine verwundete Seite legt, doch ich weiche keinen Augenblick zurück. Es fühlt sich einfach richtig an und ich schließe meine Augen, um den letzten Abend revue-passieren zu lassen. Ich rege mich über mich selbst auf, dass ich vor ihm geweint habe. Ich wollte nach dem Pik 10 Spiel eigentlich nicht mehr schwach wirken. Ich könnte meinen Kopf in mein Kissen drücken und schreien. Vielleicht hätte ich Chishiya nicht einfach umarmen sollen. Ich meine er redet nicht mit vielen und ich kann mir vorstellen, dass er nicht plötzlich von einem Mädchen einfach so umarmt werden will. Er hat mich wahrscheinlich nur aus Anstand oder Mitleid gedrückt, schließlich stand er zuerst regungslos da wie als wüsste er nicht, was er tun soll.

Und dann drehte sich diese eine Frage gestern in meinem Kopf herum: Habe ich ihn wirklich angesehen wie Light?

Ich fasse all mein Mut zusammen und drehe mich wieder zu ihm. Seine Augen flattern ein wenig, was bedeutet, dass er jeden Moment aufwachen wird. Gleich wird er wieder der kalte Mann sein mit dem hochnäsigen Grinsen, den ich kenne. Doch in diesem Augenblick wirkt er aufrichtig und schon fast ... verletzlich.

Er kneift seine Augenlieder für einen Moment zusammen und meine erste Reaktion ist, dass ich meine Augen schließe und so tue, als ob ich schlafen würde. Das ist so lächerlich, keine Ahnung warum ich das gerade mache.

"Morgen", sagt er trocken und ich öffne meine Augen. Er wirkt noch nicht ganz bei sich und fährt sich mit einer Hand über die Augen. Sofort nimmt er seinen Arm von mir, doch so verschlafen wie er aussieht hat er nicht mal mitbekommen, dass er ihn um mich gelegt hatte.

„Morgen", sage ich schlicht und strecke mich ein wenig.

„Dein Bett ist ungemütlich, dass grenzt schon fast an Folter. Nächstes Mal schlafen wir bei mir"

„Nächstes Mal?", lache ich leicht und plötzlich reißt er die Augen auf. Sein ganzer Körper spannt sich an und zum ersten Mal erlebe ich ihn sprachlos. Seine Reaktion bringt mich noch mehr zum Lachen und endlich entspannt er sich wieder, weshalb ich zu einer Feststellung komme. Er kann mich ruhig wieder eine Weile ignorieren, wenn das seine Art ist. Dafür hat es sich gelohnt neben ihm aufzuwachen. Ich höre, wie er leise lacht doch er unternimmt keinen Versuch, das Gesagte von eben rückgängig zu machen.

Ich kuschele mich wieder ein wenig in die Decke, als es plötzlich an der Tür klopft. Ich sehe Chishiya verwirrt an, weil niemand so früh bei mir anklopft. Ich laufe zu der Tür und als ich sie öffne, steht Ann vor mir. Verwundert sehe ich sie an und als ihr Blick an mir vorbeigeht, folge ich ihm. Chishiya sitzt plötzlich auf einem der Sessel und winkt mit seinem üblichen Blick Ann zu. Ich versuche nicht zu lachen aber eines muss man ihm lassen, er ist verdammt schnell. Ann nickt ihm kurz zu und nimmt ihre Sonnenbrille ab, während sie sich zu mir wendet.

„Wenn du Interesse hast, ich könnte deine Hilfe gebrauchen. Danma meinte du könntest die Richtige für den Job sein. Ich brauche eine Assistentin"

„Assistentin bei was?"

„Ich brauche für meine Forschungen noch Geräte und unsere erste Hilfe Vorräte gehen leer. Ich wollte in das örtliche Krankenhaus und alles zusammensuchen, ich brauche auch ein paar Akten."

„Klar, wann fahren wir?"

„In einer halben Stunde", sagt sie freundlich und wendet sich dann etwas strenger an den Mann hinter mir, „Chishiya, du kommst auch mit. Ich will nicht Niragi die Führung übertragen müssen"

„Würde ich auch nicht wollen", sagt er nur und zuckt mit den Schultern. 

Alice in BorderlandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt