Kapitel 37 - Das Krankenhaus

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Wir brauchten nicht all zu lange im Krankenhaus. Ann hat sich einige Aktennamen notiert, welche ich dann aus dem Archiv suche. Die anderen sammeln in der Zeit nützliche Dinge wie Antibiotika, Verbände, Beruhigungsmittel, Einweghandschuhe und einige Blutkonserven.

Ich versuche mich auf die Aufgaben zu konzentrieren, welche Ann mir gibt anstatt zu Chishiya zu sehen. Wie ich mir schon gedacht habe reden wir kein Wort miteinander, aber ich weiß auch ehrlich gesagt nicht, was ich ihm nach heute Morgen sagen könnte. Über das Wetter oder wie stimmungsaufhellend doch schwach beleuchtete Krankenhäuser sind? Niemals.  

"Wozu brauchst du eigentlich die Patientenakten?"

"Für meine Nachforschungen", beginnt sie und nennt mir immer neue Namen, "Ich möchte herausfinden, wo sie die Chips implantiert haben. Die Krankenakten helfen mir bei dem Ausschlussverfahren."

"Verstehe. Und wer erklärt sich für die Experimente bereit?"

"Niemand. Du hilfst mir später zwei weitere Leichen aufzuschneiden"

Warte, was? Ich schaue sie mit einer Mischung aus Ekel und Verwunderung an, was sie mit einem kleinen Grinsen abtut.

"Du hast heute doch noch nichts gegessen?", scherzt sie, doch irgendwie schwingt ein ernst gemeinter Unterton mit. Ich sehe sie einen Moment stumm mit leicht geöffnetem Mund an, bevor ich mich einfach wieder umdrehe und in den Akten wühle. Ich würde mal sagen das ist ein interessantes Mittagsprogramm, dass sich Ann da für uns beide überlegt hat. Ich spüre ihren Seitenblick, doch ich sage nichts. Wenn sie etwas möchte, dann wird sie schon damit herausrücken, wenn sie die richtigen Worte gefunden hat.

"Es tut mir Leid, dass es genau heute ist. Bei dem was mit Norikita passiert ist"

"Ich bin nur froh, dass ihr Körper nicht in den großen Container hinter dem Hotel geworfen wurde oder jetzt auf so einem Metalltisch liegt"

Ich spüre Anns mitleidigen Blick, dem ich aber ausweiche. Wahrscheinlich möchte ich gar nicht wissen, was mit Norikita's Leiche geschehen ist. Ich sollte sie einfach so in Erinnerung behalten, wie sie war. Ich reiche der Frau die letzte Akte von der Liste und schließe die Schränke wieder.

"Und wo denkst du befinden sich diese Ortungsimplantate?"

"Ich denke sie befinden sich im Kopf oder im Brustkorb. Die Gefahr in einem Spiel ein Bein oder einen Arm zu verlieren ist zu hoch"

"Du hast schonmal so etwas erlebt?", frage ich sie, während ich versuche mit ihr Schritt zu halten.

"Öfters als du vielleicht ahnst", sie sieht sich um, wie um sich zu vergewissern, dass wir ungestört reden können, "Du solltest vorsichtiger mit ihm sein"

Überrascht bleibe ich neben ihr stehen und bemerke erst jetzt ihren ernsten Blick. Sekunden von Bruchteile später fange ich mich wieder, ich möchte etwas erwidern oder sie fragen, was sie eigentlich meint, doch sie unterbricht mich gleich.

"Chishiya. Ich weiß nicht, was er heute Vormittag bei dir gemacht hat, aber du darfst nie vergessen, was seine Spezialitäten sind: Herzspiele"

Das hatte ich schon ganz vergessen. In einem Herzspiel geht es darum, mit dem Herzen anderer Teilnehmer zu spielen. Dazu muss man manipulativ und hinterlistig sein, und den Erzählungen nach muss diese Art von Spiel Chishiya wirklich leicht fallen.

Ich nicke Ann nur zu und sehe mich nervös um. Verhalte ich mich wirklich so auffällig? Ich meine ich benehme mich doch wie immer. Ich merke erst jetzt, dass ich den Gummiball festhalte und spielerisch drehe. 

"Hey Ann, ich will nochmal nach etwas sehen. Machen wir einen Treffpunkt aus?"

"In 10Minuten in der Tiefgarage?"

"Perfekt"

Ich laufe zum Treppenhaus und steige die ganzen Stockwerke nach unten. Da der Strom nicht geht und somit die Aufzüge ausgefallen sind muss ich einen Umweg gehen. Ich habe keine Schlüssel für die Tür zum Personalgang, also gehe ich zum letzten Aufzug und stemme die Tür auf. Die Fahrstühle in diesem Krankenhaus haben zwei Seiten. Auf der einen kommen und gehen die Besucher, auf der anderen Seite befinden sich die Umkleideräume und privaten Räume der Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger. Genau diese Seite stemme ich einen Spalt weit auf und schlupfe hindurch. Ich weiß genau welchen Raum ich ansteuere, schließlich hat meine Mutter mich früher immer hier her mitgenommen. 

Ich betrete den Umkleideraum 3 der Krankenschwestern und suche die Spinte nach dem richtigen Namen ab. Arakida. Verdammt, da hängt ein Schloss. Ich sehe mich schnell in dem Raum um und greife mir kurzerhand den Feuerlöscher. Ich knalle ihn drei Mal so fest ich kann auf das Schloss, bis es abreißt. Ich verletze mich etwas am Zeigefinger , denn ich spüre ihn sofort pulsieren und erkenne ein wenig Blut. Ich stelle den Feuerlöscher hinter mich und öffne das Schließfach. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und taste nach etwas ganz hinten im Fach.

Als ich das zarte Papier auf meiner Haut spüre, hole ich das Foto hervor. Ich muss mich daran erinnern, wer ich bin und meine Gedanken sortieren. Für den Moment wird mir alles zu viel und dieses Foto von mir und meiner Mom beruhigt mich. Ich muss ungefähr fünf Jahre alt gewesen sein, als das Foto gemacht wurde. Ich trage ein weiß-orangenes Sommerkleid und lächele breit in die Kamera. Meine Hände hält meine Mutter fest und mein kleiner Sonnenhut fliegt weg. Es ist wahrscheinlich das letzte glückliche Foto von uns, alle anderen danach waren nur gestellt. Meine Mutter hat es zwar nie zugegeben, aber dass das Foto hier in ihrem Spint liegt beweist, dass sie es auch wusste. 

Ein Lächeln bildet sich auf meinen Lippen und ich fühle mich direkt besser. Was so ein kleiner, unscheinbarer Gegenstand doch bewirken kann. Das verblüfft mich immer wieder.

"Was ist das?"

Ich zucke zusammen und verstecke das Bild hinter der Schließfachtür. Unschuldig blicke ich zu demjenigen auf und stelle fest, dass es niemand anderes als Chishiya ist. Natürlich muss er es sein. Aber Anns Worte gehen mir nicht aus dem Kopf, also beschließe ich das Bild für mich zu behalten.

"Gar nichts", antworte ich einfach und lege das Bild wieder zurück an seinen Platz. Es ist hier sicherer aufgehoben als im Beach.  

"Was ist mit deiner Hand passiert?"

Ich bemerke erst jetzt, dass ich ein wenig stärker blute als gedacht und winke nur ab. Ich laufe zum Wasserhahn und halte meine Finger unter kaltes Wasser, doch ich behalte den Mann in meinem Augenwinkel im Blick. Doch er steht weiter so da und rührt sich nicht, es ist auch nicht seine Art jetzt einfach an den Spint zu gehen und sich das Bild anzusehen. 

Er setzt sich in Bewegung und kramt irgendetwas aus der Ecke raus. Als er wiederkommt, hält er einen Verband in der Hand und sieht mich wartend an. Man glaubt es nicht, aber er kann es einem wirklich schwer machen, ihn auf Abstand zu halten. Ich trockne meine Hand schnell ab und nehme ihm im vorbeilaufen das Verbandsmaterial aus der Hand.

"Ich habe mit Ann einen Treffpunkt ausgemacht, wir kommen noch zu spät", füge ich hinzu, um nicht all zu barsch zu wirken. Ich wickele den Verband ein wenig ungeschickt um die Wunde und ich kann förmlich spüren, wie er darauf schielt und die Augen verdreht. 

Alice in BorderlandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt