Kapitel 76 - Regenbogen

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Ein lautes Geräusch lässt mich aus dem Schlaf aufschrecken und nach einer ruckartigen Bewegung meinerseits falle ich von dem Sessel und im nächsten Moment spüre ich einen stechenden Schmerz an meinem Kopf. Fluchend öffne ich die Augen und erkenne, dass ich auf dem Boden neben einem Couchtisch liege, an welchem ich mir den Kopf gestoßen habe.

"Verdammt", höre ich eine männliche Stimme sagen und im nächsten Moment erscheint das Gesicht von Chishiya vor mir, "Ich wollte dich nicht erschrecken, hast du dir wehgetan?"

"Nein alles gut", murmele ich und setze mich auf. Ich reibe mir meine wunde Stelle, lächele aber trotzdem Chishiya an, welcher vor mir in der Hocke sitzt. Er nimmt meinen Kopf in beide Hände und dreht mich so, damit er sich ein Bild von meinem Hinterkopf machen kann. Lachend nehme ich eine seiner Hände damit er sich entspannt und versuche gleichzeitig meine Tollpatschigkeit zu überspielen. "Nein wirklich, das war nur der Schreck"

Chishiya sieht neben mich und hebt überrascht das Buch über Elektronik auf. Er sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen und seinem typischen Grinsen an.

"Hast du das etwa gelesen?", fragt er verwundert und legt den dicken Wälzer auf den Couchtisch.

"Und bin dabei eingeschlafen? Ja", sage ich und er steht lachend auf, wobei er mir seine Hand entgegenstreckt. Ich nehme sie dankbar entgegen um mir von ihm aufhelfen zu lassen. Ich erkenne, dass das Licht im Bad brennt und er intensiv nach Duschgel riecht. Ich muss während dem Lesen auf dem Sessel eingeschlafen sein und er ist duschen gegangen als er von der Besprechung kam. "Tut mir leid, ich wollte hier nicht wurzeln schlagen"

"Schon okay", lacht er leicht und als ich in seine dunklen Augen sehe beginnen meine Fingerspitzen wieder zu kribbeln, "Ich wollte heute sowie noch was mit dir machen"

"Gut, jetzt bin ich wach. An was hast du gedacht?", grinse ich ihn breit an.

"Ich weiß nicht, ich dachte wir verbringen einfach Zeit miteinander wie sonst auch", zuckt er mit den Achseln und weicht meinem Blick aus. Zeit zusammen verbringen. Ich finde das klingt schön, denn mir ist es gleichgültig was wir machen solange ich bei ihm bin.  

"Ich besorge was zu Essen und du suchst derweil aus was wir spielen?", frage ich ihn und er grinst breit, wie als hätte er den selben Gedanken gehabt. Als er nickt lache ich laut auf und laufe zusammen mit ihm aus dem Zimmer. An der Treppe trennen wir uns und ich steuere das Restaurant an. Ich laufe durch die Tür, welche eigentlich nur für das Personal bestimmt ist. Niemand scheint mir großartig Beachtung zu schenken, also gehe ich einfach in den Lagerraum und nehme mit eine Flasche Eistee und eine Packung frischer Trauben. 

Ich mache mich wieder auf den Weg zu Chishiyas Zimmer, doch als ich am Geländer im zweiten Stock stehen bleibe, erregt etwas meine Aufmerksamkeit. Im Aufenthaltsbereich des Einganges entdecke ich meinen Onkel, welcher mit der Nummer zwei Tee trinkt und Dame spielt. Unsicher was ich davon halten soll verziehe ich das Gesicht, doch es legt sich eine Hand an meinen Arm und ich entspanne mich wieder bei der vertrauten Berührung.  

"Komm", sagt Chishiya sanft und ich nicke nur nachdenklich. Zusammen gehen wir in sein Zimmer und ich stelle die Sachen auf den Tisch. Er sieht mich prüfend an, doch da er sich vorstellen kann was ich denke sagt er nichts dazu. Er greift nach den Trauben und wirft eine hoch in die Luft, bevor er sie mit seinem Mund wieder fängt und isst. Er sieht mich spielerisch an und hält mir die Packung wackelnd unter die Nase. Ich verdrehe nur die Augen, bevor ich mir eine nehme und es ihm gleich tue. 

"Also, was für ein Spiel hast du mitgenommen?"

"Schach"

"Schach?"

"Ja, du solltest noch ein wenig üben", lacht er leicht doch als ich seinen ernsten, gesenkten Blick erkenne sehe ich ihn fragend an, "Ich hatte schon zwei Spiele, in denen es irgendwie um Schach ging. Es ist strategisch und erfordert logisches Denken"

"Machst du dir etwa Sorgen?", frage ich ihn mit hochgezogenen Augenbrauen und er erwidert mit dem selbigen Blick. Er lacht nur leicht und statt zu antworten stellt er die Figuren auf. Ich betrachte ihn für einen Moment und sehe ihn mit einem sanften Blick an. Würde er sich nicht Sorgen machen, hätte er eine abfällige Bemerkung gemacht oder es einfach verneint. 

"Also, welche Eröffnung bevorzugst du?", fragt er mich und ich sehe ihn lachend an.

"Eröffnung?"

"Du...", beginnt er überrascht, verkneift sich aber jegliches weitere Kommentar, "Eröffnungen werden mit dem ersten Zug gemacht. Es verrät viel über deine Strategie, ob du defensiv oder offensiv bist"

"Hm", mache ich nur und er sieht mich kritisch an.

"Du hast gesagt, du hättest dir das Schachspielen selbst beigebracht. Wie?"

"Durch eine App, mir war langweilig", sage ich ehrlich und er verkneift sich ein auflachen. Ich zögere einen Moment, aber ich habe das Gefühl ihm einfach mehr zu erzählen. "Mein Großvater wollte es mir beibringen, aber er ist gestorben als ich sieben war"

"Wie war er so?"

"Er war ein sehr strenger und bestimmter Vater, aber als Großvater war er das Gegenteil. Wenn ich geweint habe hat er sich stundenlang Zeit genommen, um für mich da zu sein. Er sagte immer, dass es ihm das Herz bricht. Einmal hat er mich nach draußen in den Garten getragen und auf eine Mauer abgestellt. Er meint nur ich sollte ich selbst sein und hat ein Foto gemacht. Im Hintergrund war ein Regenbogen und als ich das Bild sah war meine Trauer wie weggeblasen ", sage ich während ich mich an den Moment zurückerinnere, "Er war ein wundervoller Mensch. Er hat einfach jeden dazu gebracht sich besser zu fühlen"

"Und das Bild?"

"Das sollte irgendwo in unserem Haus liegen"

"Wenn du willst könnte ich eine Versorgungstour dahinlegen und wir könnten..."

"Nein", unterbreche ich ihn, "Wenn ich sterbe würde das Foto einfach verbrannt oder weggeschmissen werden. Es ist sicherer da wo es ist"

Er nickt nur verstehend und ich mache meinen ersten Zug. Ich spüre seinen Blick auf mir, kann es aber nicht genau zuordnen. Sein leichtes Lächeln zeigt mir, dass er froh ist dass ich ihm etwas privates erzählt habe. Seinem Nicken kann ich entnehmen er weiß genau, dass ich diese Details bisher nur ihm erzählt habe. Und seinem ausweichenden Blick auf das Schachbrett lässt mich erkennen, dass er nicht weiter nachfragen wird. Er schätzt meine Privatsphäre und fragt nicht weiter nach. Es ist so, als würde er mich genau kennen und eine wohlige Wärme breitet sich in mir aus. Und das Gefühl hatte ich bis jetzt nur bei ihm, bei Chishiya.

Alice in BorderlandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt