Neunundvierzig

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Snow

Immer und immer wieder sehe ich es vor mir - wie eine Endlosschleife.

Ein Ereignis, ein Fehler, mein vielleicht größter Fehler überhaupt, zu einer Zeit, in der meine Welt noch anders ausgesehen hat.

Zu einer Zeit, als ich noch einen eisernen Kampfgeist besessen habe und die Weltordnung revolutionieren wollte - als ich noch nicht die Bürde der Verantwortung derart auf mir lasten habe spüren können.

Ich höre meine Worte von jenem Tag - und die meines Vaters.

Ich sehe meine Taten an jenem Tag - und die meines Vaters.

Und mir wird schlecht.

"Ich erhebe Anspruch auf dieses Land", verkündet Vater feierlich, "Und jeder, der sich mir widersetzt wird hingerichtet." Nach einander sieht er jedem in die Augen. Luciens Blick hält er am Längsten fest. Der starrt nur stur zurück - ob ihn der Tod seines Vaters getroffen hat, ist nicht zu erkennen.

"Die ersten Hinrichtungen werden bald beginnen. Es gibt da einige Verräter, an denen ich ein Exempel statuieren muss. Einige Geiseln, die im Schloss warten", fügt er mit Blick auf mich hinzu und bei dem Grinsen in seinem Gesicht wird mir schlecht, "Und von meiner neuen Königin Snow sicherlich in Schutz genommen werden."

Immer noch süßlich lächelnd lege ich den Kopf schief und starre meinen Vater an. "Zum Regieren über ein Land als König", erkläre ich feierlich, "braucht man ein Schloss, Untertanen und Soldaten soweit ich weiß."

Verwirrt runzelt er die Stirn und dreht sich um. Ich lasse die Maske fallen.

Ich habe den Hof unterwandert und die Dienerschaft zu einer Rebellion gebracht.

Durch den Tod von Ice, des wohl treuesten Soldaten, den es gibt, verlieren auch die Soldaten ihren Willen für meinen Vater zu kämpfen - und die solischen Soldaten werden sich eher hinter Lucien scharen, denn vor einem fremden König zu knien, mit dessen Reich sie seit Jahren im Krieg liegen.

Und was das Schloss betrifft...

Mit einem traurigen, hasserfüllten Lächeln strecke ich meine Handflächen in die Richtung der Menschenansammlung - und lasse die Hölle auf sie alle los.

Ich rufe meine Elemente zu mir, auch die Neuen, die ich noch nie genutzt habe, und erschaffe etwas Tödliches. Ich kenne den Namen nicht, von dem, was ich da herbeigerufen habe, aber in dem Moment, in dem ich sehe, was es anrichten kann, verspüre ich Stolz.

Es ist eine graue Säule aus wirbelnder Luft in Höchstgeschwindigkeiten, die bis zum Himmel ragt und selbst auf dem Hügel, auf dem wir stehen, noch spürbar ist - trotz der Entfernung. Als sie sich dem Schloss annähert, bröckelt das Gebäude wortwörtlich auseinander.

Es dauert kaum zehn Minuten, da existiert das Schloss nicht mehr. Vater hat die gesamte Zeit über schweigend zugesehen, sein Gesicht verzerrt vor Wut und Unglauben.

Lucien unterdessen hat sich den Tumult zunutze gemacht und sich heimlich zurückgezogen - allerdings nicht, ohne mir ein letztes Mal zu zu nicken. Eine stumme Aufforderung, es zu Ende zu bringen.

Vielleicht sollte ich erklären, warum ich dieses Schloss - in dem Moment noch - reinen Gewissens habe einstürzen lassen können. Es ist ganz simpel.

Durch meine eigene Gefangennahme, als der König Sols noch lebte, ist der gesamte Widerstand über den Aufbau des Gebäudes im Klaren - und jedes einzelnen Fluchtweges. Sie konnten sich in der Zeit von Ices Tod davonstehlen. Lucien hat mir während der Rede meines Vaters dann unbemerkt ein Zeichen gegeben - sie haben es hinaus geschafft.

Die einzigen, die daraufhin noch im Schloss verblieben waren, waren die arroganten, selbstgefälligen Adeligen gewesen, die auf Seiten meines Vaters standen - meines Feindes.

Ja, sie standen auf seiner Seite. Denn sie sind alle mitsamt dem Schloss untergegangen.

Kaum ist das Werk der Zerstörung vollendet gewesen, sind die Menschen, die um den Scheiterhaufen standen, in Panik ausgebrochen, sind wild umhergerannt, haben getuschelt und gemurmelt und herumgeschrien. Ich habe mir dieses Chaos widerum zu nutze gemacht um meinerseits zu fliehen. Mein Vater unterdessen ist zu beschäftigt damit gewesen, einen Tobsuchtsanfall zu bekommen, um mein Vorhaben zu durchschauen.

Aber nun zu meinem Fehler: ich habe die Adeligen getötet und damit die unschuldigen Bürger, die ich doch so unbedingt hatte schützen wollen, auf dem Silbertablett der Armut überlassen.

Denn ohne die Adeligen hatten sie niemanden, der sie bezahlte. Ohne Bezahlung hatten sie nichts, was sie gegen Nahrung und Kleidung und Waren hätten eintauschen können. Und ohne dies war ihr Schicksal automatisch besiegelt.

Die Folge davon ist gewesen, dass ich das Vertrauen des Volkes verloren habe und sie sich stattdessen auf Raubzüge und Diebstahl haben verlassen müssen - denn meinen Vater interessierte es, gelinde gesagt, nicht im Mindesten, wie es dem Volk erging.

Und eben dieser Fehler hat meine Erfolgschancen in diesem Krieg um ein Vielfaches verringert. Man hat mich als verrückte, gleichgültige, machthungrige Eishexe abgestempelt und Gerüchte in die Welt gesetzt, die Königsfamilie Lunas sei vom Wahnsinn befallen und eine Bedrohung für den gesamten Kontinent - und noch dazu darüber hinaus, wenn sich die Lage hier erst einmal beruhigt hätte.

Wieder und wieder und wieder sehe ich diesen Fehler vor mir. Ich weiß nicht, wie lange das schon so geht und ich weiß nicht, was los ist, aber ich befinde mich immer noch gefangen in dieser Finsternis, die mich seit der Schlacht befallen hat.

Und es gibt kein Entrinnen.

Storming LightWhere stories live. Discover now