Kapitel 90 - Museum (Teil 3)

2.4K 149 12
                                    

Tragödie. 

Die Griechen haben in ihrer Mythologie verdammt viele davon. Wir haben nicht mehr all zu viel Zeit, weshalb ich versuche mir einen groben Überblick über die Bilder zu verschaffen. Aber es nützt einfach nichts, ich muss jede Gravierung einzeln betrachten. 

Ich laufe zu der ersten Tür und betrachte die Szene.

"Aphrodite und Ares", sage ich mehr zu mir selbst. Die beiden hatten eine Affäre. Ihr Mann Hephaistos war eifersüchtig und hat ihnen eine Falle gestellt: Ein Bett und ein goldenes Netz. Als sie miteinander schlafen wollten hat das Netz sie gefangen und Hephaistos stellte sie vor allen Göttern des Olymps bloß. Ich schließe diese Tür aus und laufe zur nächsten. 

"Medusa?", höre ich Chishiya sagen und lege den Kopf schief.

"Ja und ihre beiden Schwestern. Euryale und Stheno. Das ist es auch nicht"

Ich gehe weiter du der nächsten Tür und erkenne die Szene sofort.

"Herkules schleppt Zerberus aus der Hölle und auf dem Weg entsteht das heute bekannte Eisenkraut", erkläre ich kurz und gehe weiter. Ich erkenne einen Jungen mit Flügeln und die Sonne. Ikarus. Eine Tragödie, aber die die wir suchen? Ohne ein Wort überprüfe ich die anderen Optionen, aber eine weitere erregt meine Aufmerksamkeit. Ein Wesen mit vielen Armen und Beinen. Ich stocke für einen Moment und fahre behutsam mit meinen Fingern über das Bild.

"Und das?", fragt Chishiya aber ich höre ihn nur wie aus weiter Ferne, denn meine Gedanken versuchen sich zu ordnen. 

"Es gibt eine wenig beachtete Auffassung wie genau Prometheus den Menschen aus Lehm geformt hat. Menschen wurden ursprünglich mit vier Armen, vier Beinen und einem Kopf mit zwei Gesichtern erschaffen", erinnere ich mich und drehe mich zu ihm um, "Zeus fürchtete ihre Macht und spaltete sie in zwei Teile, damit sie ihr ganzes Leben damit verbrachten ihre andere Hälfte zu finden"

"Eine Tragödie", bemerkt er richtig und ich nicke nur. Die meisten Leute bezeichnen es als eine Liebesgeschichte. Zwei Seelen die zueinander gehören und sich am Ende finden, aber ich habe diese Vorstellung nie geteilt. Ich lächele Chishiya einen Moment länger als sonst an, da er der selben Meinung zu sein scheint.  

Er macht schon einen Schritt auf die Tür zu, aber ich winke ab. Bei den Gemälden hat er mir blind vertraut und ich muss lernen, das selbe zu tun. Außerdem möchte ich nicht riskieren, dass Chishiya wegen einem meiner Fehler verletzt wird. Ich werde die Tür öffnen. 

Ich versuche das Zittern unter Kontrolle zu halten und schließe meine Augen, als ich die Tür mit einem Ruck öffne. Doch nichts geschieht. Ich sehe auf den Gang und entdecke keine Gefahr. Ich drehe mich zu Chishiya und nicke ihm zu, dass ich anscheinend die richtige Wahl getroffen habe. Auf dem Boden liegt ein weiteres Puzzleteil und ich hebe es auf, bevor ich es Chishiya reiche. Wir laufen durch die Tür den schmalen Gang entlang und kommen auf einem Hauptgang. Anscheinend haben wir alle Puzzleteile gesammelt, die es auf dem Weg einzusammeln gilt und das bedeutet, dass wir wieder zur Eingangshalle laufen sollen.

Auf dem Flur bleibe ich noch einen Moment stehen um die ganzen Etappen des Spieles zu verarbeiten. Doch als ich spüre, wie Chishiya seinen kleinen Finger in meinen einharkt, werde ich wieder klarer und sehe zu ihm. Er nickt mir kurz zu, bevor er unsere Berührung wieder löst und Richtung Haupteingang läuft. Ich brauche noch einen Moment um diese flüchtige, aber liebevolle Geste zu verarbeiten, dann laufe ich ihm nach. 

Als wir die Treppen runterlaufen erkenne ich schon meinen Onkel und die Nummer zwei, neben ihnen drei mir unbekannte Menschen. Wir stellen uns zu ihnen in den Kreis und ich zähle an dem Puzzle in der Mitte schon siebzehn verschiedene Teile. Wir fügen unsere eigenen vier Teile hinzu, somit verbleiben noch drei gesuchte Puzzles. Als ich gerade auf die Zeitanzeige meiner Uhr sehen wollte höre ich Stimmen und die zwei Fremden, welche ich zu den Leuten aus der Industrieanlage zugeordnet habe, kommen zu uns in den Kreis. Sie fügen ihren gewonnenen, mageren Teil hinzu und wir sehen uns gespannt zu allen Treppen und Eingängen um. 

Aus dem dritten Stockwerk erscheint eine Person, sowie ein blutiger Mann aus dem Keller und beide tragen mit gehetztem Gesicht jeweils ein Puzzleteil in ihren Händen. Sie lassen sich auf die Knie fallen und pressen ihr Puzzle an die dafür vorgesehene Stelle um das Spiel zu beenden. Sogleich der blutüberströmte Mann das Teil klickend in Position bringt, ertönt ein Klingeln aus meinem Handy.

Gratulation. Sie haben das Spiel gewonnen.     

Die meisten lassen sich erschöpft oder erleichtert auf den Boden fallen, sie haben wohl noch nicht an vielen Spielen teilgenommen. Ich sehe nur zu meinem Onkel, welcher die Ruhe in Person scheint und mir aufmunternd zunickt. Er denkt wirklich ich würde so zusammenbrechen wie die anderen. 

Die Nummer zwei verlässt zuerst das Gebäude und läuft auf den Wagen zu. Ich sehe mich noch ein wenig in der Eingangshalle um, da mir klar ist Chishiya geht als nächstes. Eine Minute nachdem er gegangen ist sehe ich zu meinem Onkel, doch an seinen freundlichen Augen erkenne ich, dass ich als nächstes dran bin. Ich laufe nach draußen die Steintreppen herunter und die kühle Nachtluft beruhigt ein wenig meinen Kopf. 

"Vier Puzzleteile sind beeindruckend", höre ich eine hohe, schneidende Stimme hinter mir und versuche nicht zu erschrecken. Ich drehe mich nicht um und laufe einfach weiter. Einfach einen Fuß vor den anderen setzen. 

"Hey", sagt die Stimme immer noch weich, doch ein fester Griff spannt sich um meinen Oberarm, "Warte doch einen Moment"

"Was ist?", versuche ich gleichgültig aber nicht in Hektik zu klingen. Ich möchte einfach nur noch zu dem Auto, selbst die Nummer zwei ist mir lieber als der Fremde von der Gruppe, die wir ausspioniert haben. 

"Wir sind eine größere Gruppe und weißt du, Frauen wie du werden bei uns auf Händen getragen", sagt er und ich könnte mich bei den Worten gleich übergeben.

"Ich komme besser alleine zurecht", sage ich und bezwecke mich rauszureden. Ich will weiterlaufen, aber der Griff um meinen Arm verstärkt sich nur noch mehr.

"Warmes Essen, einen gemütlichen Schlafplatz", bietet mir der fremde Mann an. Mein Blick geht zu der Nummer zwei, welche belustigt auf die Szene schaut und Chishiya. Er hat eine emotionslose Miene aufgesetzt, doch die Hände in seinen Westentaschen sind angespannt. Das verrät mir, dass er noch nicht eingreifen will aber im Notfall würde ihm etwas einfallen. Noch während ich meinen Blick auf ihn geheftet habe ertönt ein lauter Knall und etwas spritzt mir ins Gesicht. 

Ich drehe mich gerade noch um um zu sehen, wie der leblose Körper des Mannes zu Boden fällt, während der Griff um mein Handgelenk sich lockert und ich die Schusswunde an seiner Stirn erkenne. Ich sehe zu seinem Freund ein wenig hinter im versetzt, welcher sich mit angsterfüllten Augen umdreht. Mein Onkel schießt ihm in die Brust ohne ein einziges Wort abzuwarten und ich schrecke einen Schritt zurück. Die Nummer zwei hätte mich ohne Einwende mit den Fremden gehen lassen, und trotzdem hat mein Onkel sie beide erschossen. Dieses Mal hat er nicht eigensinnig gehandelt, sondern für mich. 

Der Mann am Boden mit einer Kugel in der Lunge röchelt und streckt seine Arme hilfesuchend nach mir aus. 

"Sayuuri mein Goldkind", reißt mich die Stimme meines Onkels aus den Gedanken, "Geh zum Auto"

Es kommt mir wie ein Dejavu aus einem anderen Leben vor, doch mein Körper gehorcht mir nicht und ich wende mich dem Fahrzeug zu. Meine Beine laufen einen Schritt nach dem anderen und es bilden sich Tränen in meinen Augen. Dieses Szenario kenne ich nur all zu gut. Kurz bevor ich die Tür zum Wagen öffne riskiere ich einen Blick. Mein Onkel hält die Nase des Mannes zu. Da er Blut spuckt wenn er durch den Mund atmet wird sein erster Gedanke sein durch die Nase zu atmen. Mein Onkel sieht ihm direkt in die Augen, während er langsam erstickt und ich frage mich, ob es von seinem Beschützerinstinkt oder doch von seiner Grausamkeit herkommt.  




Alice in BorderlandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt