Kapitel 106 - Schlaflose Nebenwirkungen

2.6K 141 12
                                    

Die Nacht war schrecklich. Das Serum und seine Nebenwirkungen haben es mir unmöglich gemacht einzuschlafen. Entweder mir war kalt und ich habe mich unter der Bettdecke versteckt oder mir war viel zu warm und ich habe die Decke genervt auf den Boden geschmissen. Dieser Zyklus wiederholte sich um die hundert Mal, bis ich es aufgab und Chishiya mit der Wache ablöste.

Mittlerweile dürfte es fünf Uhr morgens sein. Ich lehne mich schon fast kraftlos an das Fenster und während meine Gedanken umherschweifen versuche ich dennoch aufmerksam auf die Straße zu sehen. Nach drei Stunden bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass ich wirklich dumm bin. Chishiya einfach wieder zu vertrauen ist leichtsinnig und naiv, das ist mir bewusst. Aber warum sollte ich mich gegen das Kribbeln in meinem ganzen Körper wehren, wenn ich jedes Mal bei einem dieser sadistischen Spiele sterben könnte? 

Ich wünsche mir für immer hier zu bleiben und nicht mehr in das Beach zurückzukehren. Wenn Tayuya in ihrem Spiel nicht gestorben ist, muss Chishiya seine Maskerade aufrecht erhalten. Er hat es zwar nicht ausgesprochen, aber das musste er auch nicht. Und dann ist da noch mein Onkel. Ich habe es für besser gehalten Chishiya nicht nach meinen Rippen sehen zu lassen und habe stattdessen darum gebeten, dass er mich die Situation mit Takeo alleine klären lässt. Aber ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wie ich mit meinem Onkel umgehen soll. Ich habe keinen strategischen Plan, ich möchte ihm nur aus dem Weg gehen.

Eine Hand wedelt vor meinem Gesicht herum und reißt mich aus meinen Gedanken. Leicht erschrocken sehe ich, dass sich Chishiya neben mich gesetzt hat.

"Huh, wo warst du wieder mit deinen Gedanken?"

"Überall", antworte ich schlicht und ziehe meine Augenbrauen zusammen als ich ihn mustere, "Du siehst erholt aus. Hast du etwa schlafen können?"

"Klar wieso nicht?"

"Schüttelfrostähnliche Symptome, Kopf- und Gliederschmerzen?", zähle ich auf, aber an seinem Gesichtsausdruck kann ich erkennen, dass er einen seelenruhigen Schlaf hatte, "Das ist verdammt unfair"

"Wahrscheinlich hat das Serum etwas mit dem Muskelgewebe zu tun, deswegen haben ich und Hiroshi nicht so viele Nebenwirkungen", zuckt er nur mit den Schultern.

"Das mit Jiro verstehe ich, er ist noch nicht ganz ausgewachsen. Aber ich bin nicht viel kleiner als du, wieso fühle ich mich dann wie ein Zombie?"

"Naja, du siehst nicht aus als hättest du in letzter Zeit viel gegessen und durch das ausfallende herumhüpfen auf dem Sportplatz hast du in der Zeit im Hotel ein wenig an Muskelmasse verloren", sagt er mit einer fachlichen und analysierenden Stimme, aber ich hebe nur die Hand um ihn zum Schweigen zu bringen.

"Wenn du jetzt sagst ich bin wabbelig geworden haue ich dir eine rein", sage ich streng. Chishiya grinst mich nur amüsiert an und zieht seine Augenbrauen hoch. 

"Ich meinte damit, dass du dünner geworden bist und nicht wie du es nennst 'wabbelig'", nickt er leicht und ich kann schon fast sehen, wie er innerlich die Augen verdreht, "Du hättest mich wirklich geschlagen, hab ich recht?"

"Sag du es mir Chishiya Shuntaro", entgegne ich nur und grinse ihn dümmlich an. Ich habe es vermisst so mit ihm zu reden. Er scheint es eher gelassen hinzunehmen, denn er nickt verständlich und lacht sogar leicht, bevor er aufsteht und aus dem Fenster sieht.

"Wir sollten langsam aufbrechen", sagt er und wirft mir einen wartenden Blick zu.

"Ohne uns zu verabschieden?"

"Wir haben das gestern mit ihnen besprochen, außerdem willst du sie wirklich wecken?"

"Nein, ich lasse sie einfach nur ungern alleine", antworte ich ehrlich in dem Wissen, dass Chishiya recht hat. Vielleicht ist es besser so, Jiro zurückzulassen und mich von dem kleinen heranwachsenden Mann zu verabschieden würde mir schwer fallen. Ich nicke nur und folge ihm aus dem Appartement. Selbst als Chishiya ein Auto kurzschließt habe ich nur einen Gedanken: Hoffentlich muss Jiro nicht mit ansehen, wie sein Vater stirbt. Und noch schlimmer, kein Vater sollte seinen Sohn begraben. 

"Kann ich fahren?", versuche ich mich von meinen Gedanken abzulenken.

"Nachdem was du mit Niragis Nase angestellt hast, nein", lächelt er frech und ich verdrehe nur meine Augen. Innerhalb zwei Minuten schließt er das Auto kurz und fährt Richtung Hotel.

"Was sagst du der Führungsrege, weshalb wir die ganze Nacht weg waren?"

"Das wir aufgehalten wurden und die Männer unser Auto beschlagnahmt haben. Es ist die rationalste Strategie uns eine sichere Wohnung für die Nacht zu suchen und abzuwarten, aber von Hiroshi und Jiro sagen wir ab besten nichts"

Ich nicke nur bestätigend und schweige die restliche Autofahrt, da ich meinen Kopf an die kalte Glasscheibe lehne und ein wenig vor mich hindöse. Doch als der Wagen anhält zucke ich kurz zusammen und sehe mich verschlafen um. Chishiya ist schon längst ausgestiegen und hat meine Beifahrertür geöffnet. Da wir wieder im Hotel sind sieht er mich einfach nur wartend an, weswegen ich mich abschnalle.

"Du solltest dich erst einmal hinlegen, ich schaue heute Abend bei dir vorbei", sagt er mit einer sanften Stimme aber so leise, dass auch ich kaum etwas verstehen kann. Ich nicke nur und zusammen laufen wir die Treppen zum Eingangsbereich hoch. Chishiya steuert ohne zu zögern die Treppen zum Konferenzsaal an, während mir jemand entgegen kommt und mit mir spricht, doch ich bin noch so im Halbschlaf, dass ich die Worte nicht verstehe. Erst als sich eine kalte Hand unter mein Kinn legt sehe ich in ein lächelndes Gesicht.

"Du meine Liebe legst dich erstmal hin", sagt Satoru als er mich mustert, "Heute Abend können wir immer noch zusammen trinken"

Ich nicke nur und lächele leicht, bevor ich mein Hotelzimmer ansteuere und kraftlos in mein Bett falle. 

Alice in BorderlandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt