27.Kapitel

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Nervös faltete ich die Hände und legte sie auf meinen Schoß. Ich atmete tief durch. Frau Seidner setzte sich zu mir an den Tisch und lächelte mich freundlich an.

»Wie geht es dir? Wie war die Woche?«, stellte sie mir wie immer diese Fragen.

»Mir geht es gut und in der Woche ist nicht viel passiert«, antwortete ich. Auch wie immer. Ich wusste nicht, wie es mir ging, einerseits gut, aber andererseits auch schlecht. Ich konnte es schlecht beschreiben. Der nicht vorhandene Kontakt zu Malena machte mich fertig, aber ich freute mich auch auf mein Solo, das ich diese Woche aufführen durfte. Natürlich freute ich mich auch auf Lienchen, obwohl ich viele Bedenken bezüglich unserem Treffen hatte. Würde sie noch Zeit mit mir verbringen wollen, wenn sie merkte, wie ich wirklich war? Ich hoffte es zumindest.

»Über was denkst du nach?«, fragte meine Therapeutin und ich blickte unsicher zu ihr, fixierte aber ihre blonden Haare.

»Naja, dieses Wochenende habe ich mein erstes Solo und ich bin deswegen etwas aufgeregt«, meinte ich zögernd und Frau Seidner nickte mitfühlend.

»Denkst du, das Solo aufzuführen, wird dir viel Überwindung kosten?«, erkundigte sie sich und ich schüttelte den Kopf.

»Ich glaube nicht. Natürlich bin ich aufgeregt, aber im normalen Bereich. Ich freue mich sogar schon total darauf. Ich stelle es mir wunderschön vor. Aber das, was mir doch etwas Bauchschmerzen bereitet ist, dass meine Internetfreundin, Lienchen, von der ich ja schon ein paar Mal erzählt habe, zu der Aufführung kommen wird«, sagte ich schließlich noch und sah meine Therapeutin erwartungsvoll an. Ein unscheinbares Lächeln bildete sich auf ihren Lippen.

»Also ist die Aufführung gleichzeitig auch euer erstes Treffen?«

Ich nickte und Frau Seidner lächelte nun richtig.

»Das sind doch tolle Neuigkeiten. Warum genau bereitet es dir Bauchschmerzen, wenn Lienchen kommt?«

»Ich habe Angst, dass ich den Tanz vor Aufregung vermasseln werde und es ihr nicht gefällt«, erwiderte ich, nachdem ich etwas länger über diese Frage nachgedacht hatte. Ich fand diese Fragen nach dem Ursprung meiner Angst immer schon total schwer, aber mit der Zeit fiel es mir immer ein bisschen leichter als am Anfang. »Und wegen dem Treffen allgemein habe ich Angst, dass Lienchen es stört, dass ich nicht so viel rede und sie doch keine Interesse mehr an unsere Freundschaft hat«, gestand ich ihr meine Bedenken. Trotzdem musste ich lächeln. In letzter Zeit fielen mir vor allem in den Therapiestunden, aber auch im Alltag Dinge auf, die ich geschafft oder gesagt hatte, es aber vor einem Jahr nicht geschafft hätte. Dieser offensichtliche Fortschritt ermutigte mich, dass all die Mühe, an mir zu arbeiten, nicht umsonst war, und ich es irgendwann hinbekommen werde, dass meine Schüchternheit mich nur noch kaum beeinträchtigte.

»Siehst du, hier ist unterschwellig wieder die Angst vor Ablehnung da, die bei dir der häufigste Grund deiner Zurückhaltung ist«, erklärte meine Therapeutin und ich nickte. Sie hatte recht, das wurde mir erst jetzt bewusst. Ja, auch in dieser Situation war diese Angst schuld, die mich schon seit ich denken konnte begleitete.

»Und da kommen wir wieder zu dem kognitiven Dreieck, das wir ja schon zur genüge besprochen haben. fass mal nochmal kurz zusammen, was das ist und wie es dir in dieser Situation helfen kann«, forderte sie mich auf. Ich musste über die Antwort nicht lange nachdenken.

»Gedanken, Gefühle und Verhalten hängen stark miteinander zusammen. Gedanken und Verhalten kann man ändern, Gefühle eher nicht. Am besten kann man etwas an den Gedanken ändern. wenn man statt negativ positiv denkt, fühlt man sich besser ist, ist zuversichtlicher und somit schafft man eher das bessere Verhalten, das sich dann zusammen mit den Gedanken positiv auf die Gefühle auswirkt«, erklärte ich kurz und Frau Seidner nickte mir zufrieden zu. »In dieser Situation kann es mir wahrscheinlich damit am besten helfen, dass ich nicht zu viel nachdenke, dass Lienchen von mir enttäuscht sein wird, sondern an all die Momente, in denen sie beteuert hat, dass sie mich so gern hat, wie ich es bin und ich sie so schnell nicht loswerde. Ich sollte mich auf unsere gemeinsamen Stunden freuen mit den Gedanken, dass ich sie so schnell nicht wieder treffen werde und deswegen die Zeit mit ihr genießen sollte«, schloss ich meine Erklärung ab.

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