Kapitel 118 - Seelische Altlasten

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Rationalität und Emotionalität sind so eine Sache. Rational gesehen weiß ich, dass der Mann welcher mir das auf meinem Rücken angetan hat tot ist. Ich war die einzige Überlebende des Spiels, gleichgültig ob er zu den Jägern gehörte oder zu den Gejagten. Aber emotional gesehen schaltet sich dieser Gedanke gänzlich aus. Vor mir steht der selbe Mann mit diesem fiesen Grinsen, welches er auch hatte als er mich auf den Waldboden drückte und mit seinem schmutzigen Messer meinen Rücken verunstaltete. 

"Ganz ruhig Kleines", sagt er, als er in seine Jackentasche greift und ich meinen Griff um die Waffe verstärke. Ich blende alle um uns herum aus und bin dazu bereit jeden Moment abzudrücken. Er holt ein Foto heraus, welches in der Mitte einmal gefaltet wurde und hält es so hoch, damit ich es sehen kann. Zwei identisch aussehende Männer haben jeweils einen Arm um den anderen gelegt und grinsen in die Kamera. Zwillinge. 

Ich weiß nicht wie lange ich auf das Bild starre, aber als er es wieder wegnimmt sieht er es einen Moment seufzend an und packt es zurück in seine Jackentasche. Erst am diesem Augenblick lockert sich mein Finger auf dem Abzug und ich bin mir unsicher, ob ich jetzt immer noch den Abzug betätigen würde. 

"Wissen sie, mein Bruder hatte einige Probleme in seiner Vergangenheit. Ich kann mir vorstellen, dass er ihnen gegenüber nicht gerade sympathisch war"

"Allerdings", sage ich verwirrt aber dennoch mit fester Stimme. 

"Es tut mir von Herzen leid, wenn er ihnen irgendein Leid zugefügt hat, aber auch wenn wir das selbe Gesicht haben bin ich nicht wie mein Bruder. Also nimm bitte die Waffe aus meinem Gesicht", sagt er und ich tue was er sagt. Dennoch trete ich einen Schritt näher zu ihm, sodass die nächsten Worte die meinen Mund verlassen nur ihm verständlich sind. 

"Wenn ich auch nur für eine Sekunde glaube, dass sie wie ihr Bruder sind zögere ich nicht Sie zu töten"

Damit nehme ich meinen Platz an der Wand wieder ein und drücke Niragi seine Pistole an die Brust, womit er sie greift und wegsteckt. Er sieht mich mit seinem mörderischen Gesichtsausdruck an, doch als er meine tränengefüllten Augen sieht scheint er eher überrascht und lässt von mir nach kurzer Zeit ab. Er sieht geradeaus und scheint ziemlich locker dafür, dass ich ihm einfach seine Waffe weggenommen habe. Wahrscheinlich sollte ich einfach froh sein, dass er mich nicht erschießt. Aber dass er so verwundert war als er mir in die Augen gesehen hat... sein Blick ist ein wenig weicher geworden. Ach was, das bilde ich mir nur ein. Er lässt mich sicherlich am Leben, damit wir im Spiel größere Chancen damit haben.

Ich blicke eine gefühlte Ewigkeit auf den Boden, bevor ich aufsehe und automatisch zu Chishiya sehe. Dass er mich schon gemustert hat und unsere Augen sich treffen vermute ich, dass er mich schon länger beobachtet hat. Es ist riskant bei einem Spiel, selbst für ihn. Ich habe keine Ahnung wie ich reagieren soll. Soll ich nicken um zu signalisieren dass es mir gut geht? Denn das tut es nicht. Soll ich mit dem Kopf schütteln, um auch Aguni und den anderen aus dem Beach zu zeigen, dass es mir nicht gut geht? Keine Option. Ich weiß doch selbst nicht was ich fühle, nur dass meine Schulter wie Feuer brennt. 

Also halte ich seinem Blick einfach stand und warte ab, bis die altbekannte, mechanische Frauenstimme sich meldet und die Spielregeln verkündet. Ich weiß nicht wieso, aber seit einiger Zeit habe ich angefangen diese Stimme mit den Moiren aus der griechischen Mythologie zu assoziieren. Vielleicht auch die Spielmacher. Sie spinnen unseren Lebensfaden und durchtrennen ihn wie es ihnen beliebt. Ein seltsames Gefühl. 

Die Zeit ist abgelaufen, das Spiel beginnt. Spiel: Horrorhaus Schwierigkeitsgrad: Kreuz 6. Teilnehmeranzahl: 24. Regeln: Keine eigenen Waffen sind erlaubt, ihr könnt sie nach dem Spiel wieder an euch nehmen. Findet drei Schlüssel und steckt sie gleichzeitig in die Vorrichtung, damit das Spiel beendet wird. Die angegebene Zeit sind 40Minuten. Aber Achtung, ihr werdet verfolgt. Das Spiel beginnt nun, Viel Glück.

Die Teilnehmer setzen sich langsam in Bewegung und laufen einer nach dem anderen in das Gebäude. Unsicher laufe ich eng an Chishiya hinterher, doch statt mich wegzudrücken oder mich mit einem strengen Blick zu strafen läuft er einen Schritt langsamer, womit er noch näher zu mir kommt und seine Nähe mich beruhigt. In solchen Momenten muss ich immer daran denken, wie selten er etwas für andere tut. Aber mir gegenüber ist er irgendwie... anders. Die Spieler verteilen sich und schlagen jeweils andere Richtungen ein, doch Aguni bleibt stehen und sieht uns alle wartend an. Wir stellen uns in einem Halbkreis vor ihm auf und sehen ihn wartend an. 

"Niragi, du und Chishiya geht nach oben und schaut dort nach den Schlüsseln. Sayuuri, du kommst mit mir", sagt er in einem Befehlston und ich lege meinen Kopf ein wenig schief, um ihn verwundert anzusehen. Er scheint zu ahnen, dass ich etwas erwidern möchte und selbst Chishiya scheint sich leicht anzuspannen. 

"Du hast gerade eine Waffe auf einen Spieler gerichtet, warum auch immer. Du hättest ihn erschießen sollen, denn er wird sich bestimmt rächen wollen. Niemand lässt soetwas einfach auf sich sitzen. Also bleibst du bei mir. Ich beschütze dich und gebe Niragi und Chishiya genug Zeit die Schlüssel zu finden" 

"Du hättest ihn wirklich einfach erschießen sollen", bemerkt Niragi selbstverständlich, doch niemand schenkt ihm wirklich groß Beachtung. Ich sehe direkt in Agunis Augen und was ich erkennen kann ist, dass er keine Widerworte duldet. Ich nicke nur stumm und als er sich in Bewegung setzt folge ich ihm. Doch nicht ohne noch einen Blick über meine Schulter zu werfen und festzustellen, dass die beiden anderen einen Moment stehenbleiben und uns nachsehen. Nicht dass ich jemandem außer Kuina, Ann oder Chishiya irgendwie vertrauen würde, aber wenn Aguni recht hat fühle ich mich mit ihn ein kleines bisschen sicherer. 

Wir laufen eine Weile schweigend durch die dunklen Gänge, bis wir den großen Parkplatz vor dem Gebäude erreichen. Aguni sieht mich fragend an und ich nehme einen kleinen Stein, um ihn nach draußen zu werfen. Keine Laser, was bedeutet der Parkplatz gehört zu dem Spielort. Mit einem sicheren Gefühl betreten wir den grauen Asphalt und ich sehe mich immer wieder aufmerksam um. 

"Was hat er dir angetan?", höre ich Aguni in die Stille sagen und zucke unweigerlich zusammen. Natürlich musste ich vor einem der Drei Rechenschafft ablegen. Aber von Aguni hätte ich es am wenigstens erwartet. Doch ich kann nichts, als schweigend auf meine Füße zu sehen. "Das Pik 10 Spiel, nicht wahr?"

Mit zitternder Hand greife ich an die Stelle, wo mein Herz sitzt und versuche den Schmerz auszublenden. Es ist kein körperlicher Schmerz wie damals, nein dieser Schmerz sitzt viel tiefer. Es ist, als würde dieses Gefühl sich in meinem ganzen Körper ausbreiten und mich zerfressen. 

"Sein Bruder.... sein Zwilling. Er hat mir das in die Schulter geritzt", gestehe ich flüsternd, "Ich war schon ziemlich ramponiert von dem Spiel und im Wald. Ich dachte die Bäume geben mir genügend Deckung, um mich zu verstecken. Aber er hat mich erwischt. Mich auf den Laubboden gedrückt und gefoltert. Irgendwann nach gefühlten Stunden habe ich aufgehört zu schreien, ich war wie katatonisch. Er muss gedacht haben ich wäre tot, denn irgendwann hat er von mir abgelassen."

Verlierer oder Überlebende, dass steht seit dieser Nacht auf meinem Rücken. Eine Träne fließt mir herunter, und da wird es mir bewusst und eine Last fällt von meinem Herzen. Zum ersten mal erzähle ich es jemanden und offenbare damit wie schwach ich eigentlich doch bin. Ich bleibe stehen und kralle verzweifelt meine Fingernägel in die Handflächen. Ich ignoriere Agunis Seitenblick, doch was im nächsten Moment geschieht hätte ich niemals in meinem Leben erwartet. Ich spüre zwei zögerliche, aber starke Arme die sich um mich legen und mich zu sich ziehen. Ich erstarre für einen Moment, doch weitere Tränen fließen mir über die Wangen und werden von dem dunkelgrünen Tanktop aufgesaugt. 

"Kluges Köpfchen, du hast überlebt. Und er war der Verlierer.", sagt er nur und danach nichts mehr. Kein einziges Wort.




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Mir wurde gerade berichtet, dass diese Geschichte die Chance hat an den Whattys 2021 teilzunehmen. Ehrlich gesagt weiß ich nicht ganz wie die Bedingungen liegen aber ich hoffe alle die die Geschichte mögen drücken die Daumen oder unterstützen diese Story. Und auch wenn ich mich nicht dafür qualifiziere danke ich jedem einzelnen Leser hier!

Alice in BorderlandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt