12. Kapitel

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12. Kapitel

Da gibt es diesen Satz aus einem Film, welcher sich in mein Gehirn gebrannt hatte, wie ein Siegel: Jedes Verbrechen und jeder Akt der Güte, erschaffen unsere Zukunft. Ich könnte behaupten nicht zu wissen, warum mir diese Worte dermaßen unter die Haut gegangen waren, aber es wäre die Mühe nicht wert. Der Grund dafür war recht simpel: Ich glaubte dass diese Worte der Wahrheit entsprachen. Alles was wir tun, ganz gleich ob gut oder schlecht, es hat eine Auswirkung auf alles und jeden. Unsere Zukunft ist kein Pfad, welcher sich niemals ändert. Unsere Zukunft ist ein Geflecht von Ereignissen, welche immer wieder neue Wege und Möglichkeiten schaffen.

Vielleicht wäre das Ganze auf das Selbe hinausgelaufen, ganz gleich wie ich mich entschieden hätte. Vielleicht aber auch nicht. Es half nicht darüber nachzudenken was wäre wenn. Es half nur eins: Einen Schritt nach dem Anderen machen und sich immer nur in eine Richtung bewegen: Nach vorn.

Aufgewühlt joggte ich die Straßen unweit vom Haus meiner Großeltern entfernt entlang. Die neusten Erkenntnisse lagen schwer auf meinen Schultern, wodurch ich das Bedürfnis verspürte, meine Beine noch schwerer zu machen. Die Tatsache dass ein Scharfschütze auf Leo geschossen hatte, war nicht das schockierende. Das schockierende war, dass er sein Ziel verfehlt hatte. Beinah so, als hätten zwar viele bei dem Angriff sterben sollen, aber nicht er. Aber warum? Warum sollte ein Attentäter Leo verschonen? Es ergab keinen Sinn, ganz gleich wie man es drehte und wendete. Natürlich war ich froh darüber dass er ihn nicht getötet hatte, doch die Fragen blieben und schienen von Stunde zu Stunde mehr zu werden.

Schwer atmend und mit rasendem Herzen blieb ich stehen, beugte mich vornüber und stützte dabei die Hände auf die Knie. Schweiß rann meinen Hals entlang, ließ meine Haare feucht zurück, mir war es gleich. Ich versuchte mich darauf zu konzentrieren meine Atmung zu kontrollieren und mich so von meinen eigenen Gedanken abzulenken.

„Hey, was machst du denn hier?", hörte ich eine überraschte, näherkommende Stimme.

Ein Blick in die Richtung aus der sie gekommen war, verriet mir das Kyle auf mich zukam. Als ich mich genauer umsah wo ich war, musste ich bemerken dass meine Füße mich unbemerkt zu seinem Haus getragen hatten. Schulterzuckend schaute ich ihn an und ging einige Schritte auf ihn zu.

„Bin einfach drauf losgelaufen", erklärte ich ihm Wahrheitsgemäß.

Interessiert musterte er mich von Kopf bis Fuß.

„Was hast du? So sehr am Limit läufst du nur, wenn dir etwas zu schaffen macht. Also?", hakte er nach.

Ich betrachtete ihn eine Weile, ehe ich anfing schmunzelnd den Kopf zu schütteln und mir übers verschwitzte Gesicht zu fahren.

„Du kennst mich einfach zu gut."

„Vielleicht", murmelte er und strich mir eine lose Strähne aus der Stirn.

„Vielleicht aber auch nicht", flüsterte er, bevor er in normaler Lautstärke fortfuhr:

„Also, was ist los?"

Nachdenklich starrte ich ihn an, dachte darüber nach, ob es wirklich so eine gute Idee war ausgerechnet mit Kyle darüber zu sprechen, dass mein Bruder aus unerklärlichen Gründen ein Attentat überlebt hatte, bei dem alle hätten sterben sollen. Andererseits: Er war mein bester Freund, warum also nicht? Dennoch, ich hatte keine Ahnung, ob meine Vermutung überhaupt stimmte, ob das was sich langsam in meinem Hirn zusammensetzte überhaupt der Wahrheit entsprach.

„Nichts. Bloß ein neuer Tag mit neuen Problemen", sagte ich lediglich, da ich meine Gedanken lieber noch eine Weile für mich behalten wollte.

Ich erwartete, dass Kyle mir widersprach, mich dazu überredete ihm doch die Wahrheit zu erzählen, doch das tat er nicht. Er war nicht mehr derselbe Mensch, den ich kennen gelernt hatte. So wie er jetzt war, wie die Dinge ihn verändert hatten, nickte er lediglich verständnisvoll und erwiderte:

„Es ist nicht so, wie wir gehofft hatten, nicht wahr?"

Schwer schluckend schüttelte ich den Kopf:

„Nein. Ist es nicht."

Es war alles ganz anders als gedacht. Leo war weder tot, noch wieder bei mir. Er war ... nicht mein Bruder. Nicht mehr am leben aber auch nicht gestorben. Er war ... er bestand aus den Überresten einer Person die er selbst nicht kannte. Und vielleicht nie kennenlernen würde.

„Du weißt ja wo du mich finden kannst", meinte er daraufhin und gab mir einen Kuss auf die Schläfe.

Dann wandte er sich von mir ab, um ins Haus zu gehen. Als er schon über den halben Rasen gelaufen war, schüttelte ich innerlich den Kopf über mich selbst und lief ihm nach.

„Kyle", rief ich und umfasste seinen Oberarm, als ich bei ihm angekommen war.

Mit fragendem Gesichtsausdruck drehte er sich zu mir um und schaute mich an.

„Danke", meine ich nur und umarmte ihn.

Überrascht tat er einen Moment lang gar nichts, dann legte er seine Arme um mich und zog meinen verschwitzten Körper an sich. Es war ein vertrautes aber gleichzeitig auch ungewohntes Gefühl ihm so nahe zu sein. Früher war ich es gewohnt, sehnte mich danach, während es heute seltsam war. Dennoch genoss ich es von ihm gehalten zu werden. Ein Teil von mir fühlte sich in seinen Armen immer noch geborgen und wohl. Sicher.

Als wir uns wieder von einander lösten, strich seine Wange über meine. Seine Stirn ruhte für einen Moment an meiner. Wir schlossen unsere Augen, atmeten tief ein, die Luft, den Augenblick. Widerwillig schoben wir uns gegenseitig von einander weg. Kyle sah mir auf eine Art in die Augen, die gefährlich war. Verboten in der Beziehung, welche wir jetzt hatten. Dennoch hielt ich ihm stand, ließ seine Arme welche meine hielten nicht los. Unaufhaltsam kamen wir uns wieder näher. Unsere Nasenspitzen berührten sich, dann unsere Lippen. Ganz sacht, kaum spürbar, kaum da. Dennoch vorhanden und falsch. Seine Hände legten sich an meinen Hals. Meine auf seine Brust, als wollte ich ihn dennoch auf Abstand halten. Es kribbelte nicht dort wo er mich berührte, aber es war angenehm. Doch egal wie es sich anfühlte, es war nicht richtig. Aber für einen Moment vergaß ich alles. Alex, Leo, meine Großeltern, alles und jeden, außer ihn und mich. Bis ... bis es einen Schlag gab in meinem Kopf. Der Verstand schalte sich wieder ein, schlug mir ins Gesicht und ließ mich zurückfahren von dem Mann den ich einst geliebt hatte.

„Wir können nicht ...", setzte ich an, Kyle unterbrach mich:

„Ich weiß. Ich weiß. Tut mir Leid. Ich weiß auch nicht ..."

„Ja, nein ... schon okay. Ich ... ich muss gehen", stotterte ich, fuhr mir übers Gesicht und rannte dann im wahrsten Sinne des Wortes vor ihm weg, die Straßen entlang zurück zum Haus meiner Großeltern und meinem Wagen.

Zitternd saß ich auf dem Fahrersitz und schrie mich in meinem Kopf selbst an. Was zur Hölle war bloß in mich gefahren? Hatte ich sie noch alle beisammen? Blöde Frage, offensichtlich nicht! Wie kam ich nur dazu? Wie kamen wir nur dazu? Ich liebte Alex von ganzem Herzen, wollte nichts von Kyle außer Freundschaft, dennoch kam es zu so etwas? Das konnte doch alles nicht wahr sein!

Stur schüttelte ich den Kopf. Es war nichts. Es beutete nichts. Es hatte keinen Platz in meinem Leben. Nicht einmal in meinen Gedanken.

Also fuhr ich los, weg vom Haus, von Leo, von Kyle, nach Hause. Dort angekommen musste ich feststellen, dass Alexanders Wagen in der Auffahrt stand. Ich parkte hinter ihm, stieg aus und ging mit einem mulmigen Gefühl nach drinnen.

„Lilly? Bist du das?", rief eine Stimme.

Ich folgte ihr, fand Alex schließlich im Wohnzimmer, wo er mitten im Raum stand, aus Gründen, welche mir nicht bekannt waren, mich aber auch nicht kümmerten. Ich ging einfach zu ihm, legte die Arme um seinen Körper und schmiegte mich wie ein kleines Kind an ihn. Das hier war richtig. Wunderschön. Und ich gefährdete es einfach fahrlässig. Wie dumm konnte ich sein?

„Hey? Ist alles in Ordnung?", fragte Alex besorgt und schob mich von sich weg, um mich ansehen zu können.

„Ich liebe dich", sagte ich aus tiefstem Herzen und küsste ihn.

„Ich dich auch", flüsterte er an meinem Ohr.

„Ich dich auch."

My Brothers Keeper (TNM-#2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt