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Jerry hatte in seiner bewussten Erinnerung noch nie ein Baby gesehen. Das führte dazu, dass er fürchterliche Angst hatte, etwas an Julie kaputt zu machen, weshalb er einen Sicherheitsabstand von einem Meter zu ihr hielt, als Remus sie aus ihrem Bett holte und die beiden im Wohnzimmer miteinander vertraut machte. 

Julie hingegen war fest davon überzeugt, dass von Jerry auf den Arm genommen zu werden ihre aktuelle Mission war und wann immer er ihr auswich, folgte sie ihm vehement. 

Mary hatte das Ganze fünf Minuten grinsend beobachtet, dann fiel ihr und Remus schlagartig ein, dass die Mittagspause des Buchladens bereits seit zehn Minuten eigentlich zu Ende war und sie machte sich wieder auf den Weg nach unten, um wieder aufzuschließen (nachdem sie gegen Remus im Schnick Schnack Schnuck verloren hatte, wer das Wohnzimmer verlassen musste). 

Remus gab sich alle Mühe, seine Tochter ein wenig zu bändigen und gleichzeitig Jerry zu überzeugen, dass das knapp einjährige Kind gut auf sich selbst aufpassen konnte.  

Schließlich hatte Julie Jerry wortwörtlich in eine Ecke gedrängt, saß vor ihm auf dem Fußboden und starrte ihn intensiv an. Seine Augen huschten zwischen ihr und Remus hin und her und Remus nickte aufmunternd, während er gleichzeitig ein Auge darauf hatte, einzugreifen, falls einer der beiden wirklich in eine Situation geriet, die ihn überforderte. 

Wie in Zeitlupe ging Jerry in die Hocke, bis er beinahe mit Julie auf Augenhöhe war, bevor er ihr die Hand entgegenstreckte, als wäre sie eine erwachsene Person von höherem Rang als er selbst. Sie zögerte keine Sekunde und schnappte sich seinen Zeigefinger mit beiden Händen, bevor sie wild damit durch die Luft wedelte. Ein riesiges Grinsen erschien wieder auf dem Gesicht des Teenagers. Remus war sich inzwischen sicher, dass Jerry nur breit grinsen oder verwirrt schauen konnte - ohne irgendwelche Zwischenstufen. 

Einige Momente beobachtete er die beiden fasziniert, die jetzt wo Jerry sich zur Kommunikation überwunden hatte, vollkommen in ihrer eigenen Welt waren. 

"Ich sollte wieder runter in den Laden", sagte er dann vorsichtig. "Wollt ihr beide mitkommen?" 

Es war eine Frage, die sich mehr an Jerry richtete als an Julie. Sie hatte keine Wahl, sie konnte unten entscheiden, ob sie in ihr Spielzimmer gehen oder im Laden bleiben wollte. Oben in der Wohnung war unbeaufsichtigt keine Möglichkeit für sie, außer sie schlief, dann konnte sie aber auch keinen Unfug anstellen und Remus hatte immer ein halbes Ohr darauf, ob sie wieder wach wurde. Übermenschliches Gehör hatte auch seine Vorteile. 

Jerry nickte und Julie auch, allerdings vermutlich vor allem, um ihren neuen Lieblingsmenschen nachzuahmen. (Das war kein besonders schwer zu erreichender Titel, wenn Remus ehrlich war - jeder Mensch, der sich mit ihr beschäftigte, war Julies Lieblingsmensch.)

"Möchtest du sie nehmen?", schlug er vor. Wieder flackerte die Unsicherheit in Jerrys Augen, aber er nickte vorsichtig. Remus zeigte ihm, wie man unter ihre Arme greifen musste, um sie hochzunehmen und wie man sie festhielt, wenn man sie einmal oben hatte. Jerry stellte sich gar nicht schlecht an und starrte Julie in die Augen, als wäre sie das faszinierendste, was er in seinem Leben je gesehen hatte. 

"Sie riecht gut", sagte er leise. Remus schmunzelte und nickte, bevor er auf die Wohnungstür deutete. Jerry setzte sich in Bewegung und Julie quietschte begeistert, bevor sie beide Hände in Jerrys halblangen, dicken und ziemlich verfilzten Haaren versenkte. Es ziepte ganz offensichtlich, das konnte Remus auf Jerrys Gesicht sehen, aber der Jugendliche sagte nichts, wirkte im Gegenteil immer noch völlig hingerissen von dem kleinen Mädchen auf seinem Arm. 

"Möchtest du die Haare lang behalten?", fragte Remus, während sie langsam die Treppe nach unten stapften. "Oder lieber abschneiden?"

Jerry zögerte, wirkte einen Moment wie eingefroren, setzte mehrfach an, etwas zu sagen, bevor Remus ihm sanft eine Hand auf den Arm legte. 

Der Buchladen im LigusterwegWo Geschichten leben. Entdecke jetzt