Kapitel 180

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Marie

„Ach Shay... das kriegen wir dann schon hin! Und Wincent ist doch auch kein Unmensch, er will dich doch nur beschützen und kommt noch nicht so richtig gut damit klar, dass du eben auch erwachsen wirst und dich auch für Jungs interessierst... aber ich bin mir sicher, wenn es darauf ankommt, wird er sich für dich freuen!", nahm ich meinen Freund dann ein bisschen in Schutz und überlegte gedanklich schonmal, wie ich ihm bei diesem Thema irgendwann begreiflich machen sollte, dass seine Schwester ihn brauchte, ohne dass er jedes Mal durchdrehte.

Shay lächelte dann leicht und murmelte: „Ich weiß doch... aber er wird trotzdem durchdrehen und laut werden, sollte ich jemals einen Jungen mit nach Hause bringen..." „Mach dir darüber jetzt noch keinen Kopf, er wird lernen müssen, auch damit umzugehen! Und wenn es dann mal wirklich soweit ist, werd' ich mein bestes geben, ihn in Schach zu halten...", schmunzelte ich, meinte es aber vollkommen ernst. Bei dieser Sache würde ich mich auf Shays Seite stellen, sollte es zwischen den beiden wirklich eskalieren. „Okay...", meinte sie nur und schien nicht weiter darüber nachdenken zu wollen, „... ich weiß schon, warum ich lieber mit dir über sowas reden will als mit Wincent." Das konnte ich allerdings auch gut verstehen. Wincent war zwar ein sehr einfühlsamer Mensch, aber wenn es um seine Schwester in Kombination mit Jungs ging, brannten bei ihm alle Sicherungen durch.

„Gibt es sonst noch etwas, worüber du reden willst?", fragte ich sie dann, denn ich hatte das Gefühl, ihr lag noch immer etwas auf dem Herzen. „Naja, irgendwie schon... aber irgendwie ist mir das auch voll unangenehm, darüber zu reden...", druckste sie wieder herum. „Du kannst mir gegenüber wirklich alles ansprechen, Shay! So von Frau zu Frau muss dir hier in diesem Raum gerade wirklich nichts peinlich sein... alles, was wir hier besprechen, bleibt auch hier und zwischen uns, okay?" Ich legte meinen Arm um sie und lächelte sie ermutigend an.

„Ja okay... also ich weiß nicht so richtig, wie ich das überhaupt sagen soll, aber was mach ich denn, wenn Nils mich wirklich auch mag? Ich hab' doch noch nie einen Jungen geküsst, geschweige denn, dass ich bereit wäre, mit ihm zu schlafen...", teilte sie mir ihre Gedanken mit und ich merkte ihr an, dass es ihr trotzdem unangenehm war. Aber ich konnte es ihr nachfühlen, ich war doch genauso, bevor ich nicht all diese Dinge mit Wincent erlebt hatte und dahingehend selbstbewusster geworden war. „Ich kann dir da nur wieder raten, was ich dir letztens schon erzählt hab'. Hör auf dein Bauchgefühl und tu ihm zuliebe nichts, wozu du dich noch nicht bereit fühlst... wenn er dich wirklich mag, wird er das akzeptieren und dir Zeit geben und wenn du dann bereit bist, wirst du nicht mehr so viel darüber nachdenken, sondern es einfach genießen. Und wenn es dir hilft, rede mit ihm über deine Ängste, wenn es wirklich ernster zwischen euch werden sollte, das hab' ich bei Wincent auch getan, weil ich anfangs auch absolut überfordert war mit der Nähe zwischen uns und wie ich in bestimmten Situationen reagieren soll..." Aufmunternd lächelte ich sie an und war auch ein bisschen froh darüber, dass ich so viel Vertrauen zu Wincents Schwester aufbauen konnte, dass sie mit solchen Fragen wirklich zu mir kam. „Aber woher weiß ich denn dann, wie weit ich theoretisch gehen könnte und was der andere mag?", wollte sie noch wissen. „Du wirst es merken... am Anfang ist das natürlich alles noch nicht so leicht und ihr müsst euch eben erst gegenseitig kennenlernen und einfach viel kommunizieren, aber mit der Zeit findet man das einfach raus und kann sich immer mehr aufeinander einlassen...", meinte ich und dachte auch dabei wieder an die Anfangszeit mit Wincent zurück, wie unsicher ich da auch einfach noch war bei jedem noch so kleinen Schritt, den wir weiter gegangen waren.

„Okay... danke Marie! Ich bin so froh, dass du mich verstehst..." sagte Wincents kleine Schwester dann ein wenig mehr erleichtert und umarmte mich dankbar. „Na klar! Wir Mädels müssen doch zusammenhalten!", schmunzelte ich und drückte sie nochmal an mich.

Als ich am nächsten Tag von der Arbeit kam, wo die Mädels vor der Notaufnahme zum Glück nicht wieder aufgetaucht waren, war Wincent natürlich noch nicht da. Ich hatte ja aber auch mit nichts anderem gerechnet. Der hatte sicher erstmal seinen Rausch ausgeschlafen heute Morgen. Sollte mir recht sein, so hatte ich nochmal ein wenig Zeit mit Shay, in der wir ungestört quatschen konnten. Denn die überfiel mich schon an der Haustür, kaum hatte ich den Schlüssel im Schloss herumgedreht. „Marie, ich muss dir was erzählen!", legte sie auch gleich los und ich musste ein wenig grinsen. So wie sie strahlte, konnten das nur gute Nachrichten sein. „Darf ich wenigstens erst kurz die Haustür schließen und meine Schuhe ausziehen?", fragte ich amüsiert, woraufhin sie nur ungeduldig nickte. „So, schieß los, was gibt's?", erlöste ich sie dann keine zwei Minuten später, als ich mich mit ihr im Wohnzimmer auf der Couch niedergelassen hatte. „Ich hab' Nils heute nach Mathe gefragt... und wir haben uns für morgen verabredet und er hat mir seine Nummer gegeben!", platzte es aus ihr heraus und sie grinste überglücklich. „Na siehst du, klappt doch! Dann nutz deine Chance und genieß' die Zeit mit ihm und finde heraus, was da zwischen euch ist", riet ich ihr und freute mich wirklich für sie. Auch wenn ich ganz genau wusste, was hier los sein würde, wenn Wincent davon Wind bekäme.

Apropos Wincent. Wenn man vom Teufel sprach. Der kam nämlich gerade zur Tür herein und ließ seinen Rucksack im Flur an Ort und Stelle fallen. Sofort sprang ich auf und rannte aus dem Wohnzimmer, um ihm um den Hals zu fallen. Doch bevor ich das tun konnte, schob er mich beiseite. „Nicht!", versuchte er zu sagen, doch aus seinem Mund kam kaum ein Ton heraus. „Was ist mit deiner Stimme passiert?", wollte ich sofort wissen und sah ihn erschrocken an. „Erkältung... mir geht's echt nicht gut gerade...", brachte er noch hervor, bevor er einen ordentlichen Hustenanfall bekam. Oh Mist, dann hatte ich gestern also doch den richtigen Riecher, dass er sich irgendwie heiser anhörte. „Okay, du gehst jetzt direkt runter und legst dich hin, ich koch dir erstmal einen Tee!", bestimmte ich und ließ keinen Widerspruch zu, indem ich ihn sanft Richtung Treppe schob. „Ich ruf Mum an und sag ihr, sie soll beim Einkaufen alles für eine Hühnersuppe mitbringen, die kochen wir dir dann", ergänzte Shay, die mittlerweile auch hinter mir aufgetaucht war.

Ohne Widerworte tat Wincent tatsächlich, was wir sagten und schnappte sich seinen Rucksack, bevor er sich schließlich die Treppe herunterschleppte. Er sah echt nicht fit aus und ich beschloss, neben dem Tee auch gleich mal das Fieberthermometer mit runterzunehmen. Ich ging also mit Shay in die Küche und während sie mit Angela telefonierte, schaltete ich erst einmal den Wasserkocher an, goss meinem Freund einen Kräutertee auf und fand auf der Suche nach dem Thermometer auch noch ein paar Halstabletten, die ich ihm auch gleich mitnahm.

Unten in unserem Zimmer angekommen, lag Wincent schon erschöpft auf dem Bett, hatte bisher aber weder seine Schuhe ausgezogen noch den Weg unter die Decke gefunden. Seufzend stellte ich alles auf dem kleinen Nachttisch ab, bevor ich mich meinem Freund widmete. „Ach Winnie, wo hast du dir das denn jetzt wieder eingefangen?", murmelte ich und strich ihm vorsichtig über die Wange, wo ich sofort spürte, dass er glühte. „Los, zieh wenigstens deine Schuhe aus und kuschel dich dann unter die Decke...", versuchte ich ihn zu motivieren, aber er sah mich nur kraftlos aus seinen fiebrigen Augen an. Ich zog ihm also seine Schuhe von den Füßen und die Decke unter ihm weg, um ihn zudecken zu können. „Mir ist so warm...", nuschelte er aber keine Minute später und schälte sich dann doch aus seinen Klamotten, bis er nur noch in Boxershorts auf dem Bett lag. „Wincent, du solltest dich wenigstens ein bisschen zudecken, nicht dass du dir noch mehr wegholst", meinte ich und hielt ihm gleichzeitig das Fieberthermometer hin.

„Hier ist übrigens dein Tee und ein paar Halstabletten, die deiner Stimme hoffentlich guttun werden...", legte ich die Sachen in seine Nähe auf dem Nachttisch. „Danke!", hauchte er, bevor das Thermometer auch schon piepte. „39,1", las ich vor und seufzte, „da hat es dich wohl ganz schön erwischt... versuch am besten, einfach ein wenig zu schlafen, du siehst richtig fertig aus..." Er nickte nur und ließ nun doch zu, dass ich ihn wieder zudeckte. Sanft strich ich ihm ein paar Mal über die Schulter, bis er eingeschlafen war. Ich fragte mich ja, wie er es geschafft hatte, vorhin noch Auto zu fahren.

Ich ging dann wieder nach oben, wo Shay noch in der Küche saß und auf Angela und die Zutaten für die Suppe wartete, um loslegen zu können. Ich leistete ihr ein wenig Gesellschaft, bis ich schließlich irgendwann wieder nach Wincent schauen ging, während die beiden sich oben ans Kochen machten.

Leise öffnete ich die Tür zu unserem Zimmer, um ihn nicht zu wecken, sollte er gerade schlafen. Doch er drehte sich sofort um, als ich ins Zimmer trat, und ich sah schon, wie er zitterte. „Jetzt ist mir so kalt...", murmelte er und sah mich leidend an. „Ach Wincent...", seufzte ich nur und zog noch eine weitere Decke aus dem Schrank, um ihn darin einzuwickeln, nachdem ich ihm seinen Hoodie wieder übergezogen hatte. „Besser?", wollte ich wissen, doch er schüttelte nur mit dem Kopf. „Nicht wirklich..." Ich seufzte erneut und konnte mir das hier nicht länger mit ansehen. Er tat mir so leid und ich wollte nicht, dass es ihm so schlecht ging. Damit konnte ich echt nicht gut umgehen.

Ich ließ mich auf meine Bettseite fallen und wollte gerade näher an ihn heranrutschen, als er direkt zurückwich. „Nicht!", krächzte er und musste im nächsten Moment schon wieder husten. „Was ist?", sah ich ihn fragend an. „Ich will dich nicht anstecken..." „Wirst du nicht, mein Immunsystem kann sowas ab! Und wenn nicht, darfst du mich dann gesundpflegen, wenn du wieder fit bist", ließ ich keine Widerworte zu und kuschelte mich nun wirklich zu ihm. Vielleicht würde ja meine Körperwärme helfen, dass ihm nicht mehr so kalt war. Außerdem würde ich mir in der Situation selbst auch wünschen, dass er mich in den Arm nimmt, auch wenn es vermutlich nicht die vernünftigste Entscheidung war. Ich legte mich auf den Rücken und zog Wincent in meine Arme, wo er seinen Kopf sofort kraftlos auf meiner Brust fallenließ und seinen Körper enger an mich presste, bevor er merklich entspannte und nach ein paar Minuten auch das Zittern nachließ. „Jetzt ist's besser...", nuschelte er noch, bevor er wieder einschlief.

Seit du bei mir bist, fehlt mir nichtsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt