Kapitel 10

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Ich habe mich zurückgezogen. Die letzten Tage bin ich meinem Chef, so gut es ging, aus dem Weg gegangen. Es war mir unangenehm, mit ihm zu sein. So unangenehm, dass sogar meine nervösen Hickser unterdrückt wurden. Mir war immer nur warm. Narin hatte mich auch gefragt, was passiert ist, aber ich konnte es ihr nicht erzählen. Ich komme mir immer noch so albern vor. Ich bereue es, so offen gewesen zu sein. Und ich schäme mich. Ich bringe ihm keinen Kaffee mehr, aber er besteht auch nicht darauf. Das ist besser für mich. Werden wir also nie wieder miteinander sprechen? So wie wir es getan haben? Es macht mich immer wieder traurig. Ich war auch ziemlich antriebslos, als ich mit Narin nach Kleidern geschaut habe. Ich konnte sie zwar zum Lachen bringen, aber die letzten Tage bemerkte jeder, dass meine laute Stimme, mein Verplappern, die langen Aneinanderreihungen von Sätzen und vor allem mein mutiges Verhalten gegenüber meinem Chef fehlen. Daraufhin habe ich nur beschämt die Schultern zucken lassen. Was soll ich ihnen denn sagen, außer dass ich mich nicht so fit fühle? Etwa, dass ich verknallt in unseren Vorgesetzten bin und er mir das Herz gebrochen hat? Und ich abgemahnt wurde? Ich will gar nicht in den Briefkasten schauen deshalb und ich wollte eigentlich googeln, ob die verbale Ankündigung der Abmahnung verjährt, wenn sie nach einer bestimmten Zeit nicht postalisch an den Empfänger gelangt.

Daran kann ich aber nicht mehr denken, weil ich mich fertigmachen muss. Und seit Tagen frage ich mich, ob ich meine Haare natürlich tragen oder doch glätten soll. Hätte ich ein Abendkleid an, das dem westlichen Standard entspricht, würde ich sie glätten, aber bei Xeftans habe ich meine Haare viel lieber lockig. Auf Hochzeiten habe ich sie auch selten geglättet, aber in der Arbeitswelt bin ich doch schüchtern. Ich glätte sie einfach wieder. Es tut mir zwar weh, weil ich meine Haare damit extrem strapaziere, aber sonst werde ich mich den ganzen Abend lang unwohl fühlen. Bei meinem Xeftan war ich mir leider auch ein wenig unsicher. Durch den Alltagsrassismus in der alten Firma habe ich so gut wie möglich meine Kultur vor den komischen Kommentaren geschützt. Anfangs habe ich mich noch dagegengestellt, aber als es immer stressiger wurde, wollte ich einfach nur meine Ruhe. Narin hat mich aber bei dem Schritt bekräftigt. Sie ist ebenso verliebt in den wunderschönen, hellgrünen Stoff wie ich. Es funkelt so wunderschön durch die Steinchen der Ranken und Blätter. Deshalb ist es auch mein liebstes Xeftan. Es zeigt eines meiner Leidenschaften.

Nachdem meine Hautpflege eingezogen ist, überlege ich, welche Farbe meine Lippen heute zieren sollen. Etwas in Richtung Braun oder Pink? Braun. Mit einem leichten Pinkstich. Das ist es. Der braune Lippenstift von Manhattan bildet mit dem passenden Lipliner die Basis, dann folgt der pinke von Catrice und dann mein ehemalig durchsichtiger Lipgloss von Essence. Das sieht toll aus. Ich liebe Eyeliner mehr als Lidschatten, aber ich liebe schimmernde Lidschatten. Dadurch, dass meine Augenpartie dunkler ist, wirkt es mit den Glitzerpartikeln des Lidschattens wie ein braunes Augen-Make-up. So! Concealer, Eyeliner, Mascara und schon kann ich in mein Xeftan hüpfen. Mein Unterkleid habe ich schon an, das Hauptkleid liegt wartend auf meinem Bett sowie mein Schmuck. Heute bin ich besonders nervös. Ich weiß nicht wieso, aber bei dem Gedanken, heute meinen Chef zu sehen, wird mir ganz mulmig. Vielleicht, wegen der Sache mit dem Partnerlook. Immerhin werde ich ja heute in der schönen Farbe erscheinen, die ich vorgeschlagen habe und die er so schrecklich findet. Das macht mich immer noch traurig und ich habe noch Stunden zu Hause deshalb geweint. Wenn ich jetzt wieder vermehrt daran denke, fange ich schon wieder an und mir reichen die ganzen Hickser heute schon. Hoffentlich wird mein Muttermal wenigstens nicht jucken.

Als ich dann meinen schönen Goldgürtel umlege und mich ein weiteres Mal über die schönen goldenen Blätter der drei Blumen und die Perlen um die Ränder der Blütenstempel herum freue, drehe ich mich einmal vor dem Spiegel. Jetzt muss ich nur noch auf Narin warten. Wir wollten gemeinsam zur Location. Ihre Unterstützung tut mir wirklich gut. Die letzten Tage haben wir unsere Pausen gemeinsam verbracht und auch das Wochenende. In ihr habe ich eine gute Freundin gefunden. Vielleicht schaffe ich es ja irgendwann, ihr zu erzählen, was passiert ist. Irgendwann, wenn ich damit abgeschlossen habe. Das Problem heute wird aber sein, dass ich mit meinem Chef diverse Gäste begrüßen muss. Das wird verdammt unangenehm für mich, aber ich habe mir geschworen, kühl und distanziert zu bleiben. Nur einmal wenigstens. Ich habe mir oft gesagt, dass ich nach einer Abweisung kühl und distanziert werde, aber sobald man mich angesprochen hat oder eine simple Frage zu meinem Interesse stellte, konnte ich mich nie zurückhalten. Ich möchte sprechen. Ich möchte erzählen, welche Pflanze ich mir gekauft habe und welche ich mir noch holen möchte. Ich will voller Stolz erzählen, dass ich am Samstag meine Schneekugelsammlung gereinigt habe. Mein Herz ist nicht dafür gemacht, verschlossen zu sein. Es hat sich mit so viel Unterdrücktem gefüllt, dass es bei jeder Aufmerksamkeit hunderte von Lasten herauskatapultiert.

Tollpatschige LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt