Kapitel 127 - Eine Hochzeit im Borderland

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Chishiya's Sicht

Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie leicht Menschen ihre Ängste ignorieren, indem sie den sündhaften Mustern ihres Verhaltens nachgehen. Sie versuchen den letzten Rest ihrer Gedanken abzuschalten, indem sie sich im Alkohol ertränken, mit Drogen vernebeln oder ihren Körper betäuben, indem  sie körperliche Zuneigung von deren suchen. 

Manchmal erscheinen mir die Mitglieder der Beach-Gesellschaft wie ein Experiment, welches genau dieses Verhalten nachweisen soll. Eine zusammengeworfene Gesellschaft aus zufällig ausgewählten Menschen verschiedener Zielgruppen, welche unter Stresseinwirkung ein bestimmtes Verhaltensmuster an den Tag legen.  

Mit einem neutralen Gesichtsausdruck lehne ich an einer Säule im zweiten Stockwerk und beobachte den Eingangsbereich. Scharen von Menschen verlassen das Hotelgebäude und begeben sich Richtung Sportplätze zu der aufgebauten Feier. Meine Meinung bezüglich der Hochzeit und diesem ganzen Aufriss steht fest, es ist einfach nur lächerlich. Der Hutmacher möchte den Anschein von Kontrolle und Sicherheit aufrecht erhalten und einige Gemüter beruhigen. Yuudai ist im Militärtrupp und die Art und Weise wie der Hutmacher somit seine Erkenntlichkeit gegenüber der ganzen bewaffneten Bagage zeigt, hat in den letzten Tagen zu weniger Zwischenfällen geführt. Die Situation einer vergleichbaren Waffenruhe wird nicht lange halten und die ebben-artige Stimmungslage könnte zu einer Flut umbrechen, die das ganze Hotel zerstört. 

Mir soll es recht sein, das Chaos wird sich gut ausnutzen lassen genau wie diese Hochzeit. Nur eine Hand voll Menschen wird im Hotel bleiben, Aguni wird die Präsidentensuite bewachen lassen und etwas sagt mir, dass er nicht vorhat an der Trauung beizuwohnen. 

Ich trete einen Schritt zurück, um unbemerkt im Schatten der Säule zu bleiben und sehe zu wie selbst Keiichi Kuzuryū, die Nummer zwei der Führungsriege, durch den Haupteingang nach draußen verschwindet. Wenn ich unbemerkt bleibe, habe ich später keine Komplikationen zum Überwachungsraum zu kommen. Ich schätze mal es wäre ziemlich ärgerlich, wenn noch ein Mitglied aus der Führungsriege von dem Raum profitieren würde.   

Sobald nur noch vereinzelt Leute den Eingangsbereich durchqueren, stoße ich mich leicht von der Wand ab und schlendere die Treppen herunter. Den Schlüssel fest in meiner Westentasche umschließend laufe ich die leeren Kellergänge entlang und sehe unauffällig in hinter mich, nur um auch sicher nicht verfolgt zu werden. Doch ich konnte weder jemanden die gelockerte, vorletzte Treppenstufe herunterlaufen hören, noch nehme ich einen fremden Geruch wahr. 

Entspannt setze ich mich auf den quietschenden Bürostuhl und lehne mich zurück, während ich die Hände gemütlich vor meinem Bauch falte. Die Stuhllehne gibt in einem optimalen Neigungswinkel nach und meine Augen fixieren in gleichen Intervallabständen einen anderen Monitor. 

Dieser Raum bietet einen ultimativen Vorteil gegenüber den anderen, doch dass der Hutmacher die Videokameras in seinem Hotelzimmer abgebaut hat war zu erwarten. So werde ich nicht den Aufbewahrungsort der Spielkarten herausfinden, aber ich habe mir seit der Schlüsselübergabe mit Tayuya jeden einzelnen Quadratzentimeter der Gänge eingeprägt: 

Von dem Aufgang zum Dach bis hin zu dem Maschinenraum im Untergeschoss. Ich kenne alle erdenklichen Ein- und Ausgänge für die Benötigung eines schnellen Fluchtweges. Gleichgültig wo im Hotel ich mich befinde, ich weiß die Sichtweite von jedem Aufenthaltsort und Punkte, von denen man die Möglichkeit hat mich zu sehen. Tote Winkel, versteckte Nischen und Sackgassen. Nur die Präsidentensuite und damit auch das Versteck der Spielkarten entzieht sich meiner Kenntnis, und ohne das vermindert sich der Wert meiner Informationen. Aber im Leben bieten sich immer irgendwelche Chancen an sein Ziel zu kommen, und sobald sich eine davon bietet greife ich mir das Kartendeck still und heimlich.

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