Kapitel 129 - Ewig währendes Leid

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Und hoffnungslos erkenn ich nur zu spät
Die Mördertriebe, die den Zügel hassen.
Unheilbar bin ich, nun Vernunft zerstoben,
In ew'ger Unruh ein Besessener:
Gedank' und Urteil, wie im Wahnsinn toben
Blind um die Wahrheit irrend hin und her:
Der ich dich schön gepriesen, hell gedacht,
Die schwarz wie Höll' und finster wie die Nacht.

- Shakespeare

Der Zustand der Trauer äußert sich bei Menschen auf die unterschiedlichste Art und Weise, dennoch gibt es wiederkehrende Charakteristika, welche die Definition prägen.

Leugnen.
Nachdem ich den anfänglichen Schock überwunden hatte, habe ich mich aufgerafft und jeden Quadratzentimeter meines Hotelzimmers abgelaufen. Möglicherweise ist Izumi noch am Leben und das alles ein schrecklich grausames Missverständnis. Selbst wenn ihre zugeteilte Gruppe zurück zum Beach gekehrt ist besteht noch die Chance.

Niragi wollte bei meinem ersten Spiel den bewusstlosen Yuudai einfach auf der Straße liegen lassen, vielleicht ist es genauso Izumi ergangen. Doch wieso sollte Ann mir dann direkt ins Gesicht sagen, dass Chishiya sie angeblich umgebracht hat? Manchmal lassen sich keine Zweifel an einer Sache ausmachen. Izumi ist gestorben, es klingt lächerlich aber ich spüre es durch das schmerzhafte Ziehen in meiner Brust. Aber Chishiya hat sie nicht umgebracht... jemand muss etwas falsch verstanden haben oder Niragi hat vor der Forensikerin übertrieben. Chishiya tötet nicht zum Vergnügen wie er, aber Niragi hätte sich mit seiner Tat gebrüstet und sie nicht auf einen anderen abgeschoben. Nein, Chishiya weiß wie viel mir Izumi bedeutet, er würde doch nicht...

Zorn.
Meine Gefühle haben sich langsam ans Licht gekämpft und Wut machte sich in mir breit. Dieses Stadium der Trauer hat einiges an dekorativem Mobiliar gekostet: Überwältigt von der Aggressivität liegt nun eine zersplitterte Vase am Teppichboden sowie unzählige Kissen und ein zersprungener Kommodenspiegel hängt an der Wand. Doch sogleich die Billigvase meine Hand verlassen hat, übermannte mich ein Schwächegefühl. Zusammengesackt am Boden hatte ich den Drang laut zu schreien, einfach all meinen Frust rauszulassen. Ich wollte nicht, dass andere Mitglieder das mitbekommen und habe mir eines der Kissen geschnappt, um meine Schreie zu dämpfen.

Philosophieren über das Leben.
Sobald meine Stimme ihren Geist aufgegeben hat, habe ich mich in eine Decke gehüllt auf die Sitzcouch gelegt und während mein leerer Blick aus dem Fenster auf das Meereswasser gerichtet war, arbeite mein Verstand auf Hochtouren. Ich habe niemals ein Spiel mit Izumi bestritten, aber dass sie so lange überlebt hat muss bedeuten, dass sie eine Kämpferin war. Eine Kämpferin... sie hat sich in dieser verqueren Welt auf einen anderen Menschen voll und ganz eingelassen und war aufgeregt. Izumi hatte keine Angst und keine Bedenken, ich hielt es anfänglich für Leichtsinn und Dummheit, aber vielleicht war sie einfach nur mutig es zuzulassen. Bis heute konnte ich mich nicht überwinden, meine Gefühle gegenüber Chishiya offen zuzugeben. Izumi hat es in diesem Punkt so viel stärker gemacht als mich.

Izumi war noch vor mir ein Mitglied der Beachgesellschaft. Möglicherweise haben wir alle ein Ablaufdatum in dieser Welt. Nicht einmal ein ganzes Hotel war bisher in der Lage alle Spielkarten einzusammeln, es ist nur eine Frage der Zeit bis wir alle sterben. Vermutlich habe ich schon länger gelebt, als es vorgesehen war. Ohne den Hutmacher, Ann oder Chishiya wäre ich schon längst nur ein verfaulender Leichnam, zusammengebrochen in einer Spielfeldarena.

Ich schätze mittlerweile bin ich in der vierten Trauerstufe: Der Depression. Nach den vielen gemischten und wechselnden Gefühlen bin ich ausgelaugt und liege nur noch regungslos auf der Couch. Meine innere Stimme ist verstummt und meine Gedanken frei. Das letzte Stadium ist Akzeptanz, aber ich schätze dafür ist es noch zu früh. An schlafen ist nicht zu denken, zum einen wegen der zu erwartenden Alpträume, ich kann mir nicht vorstellen aufzuwachen und die Hoffnung sehend, dass alles nur ein schlimmer Traum war.

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