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"Jerry, du musst nicht arbeiten", protestierte Remus zum vierten oder fünften Mal. "Du hast Urlaub, wir schmeißen den Laden ohne dich." 

Jerry verdrehte nur die Augen und schob ein Lexikon auf einem der oberen Regalbretter an die richtige Stelle. Er trug weite Jeans, ein weißes T-Shirt mit einem offenen, locker sitzenden blau-grün karierten Hemd darüber und dazu diese militärartig aussehenden Schuhe, die gerade modern waren - Doc Martens? Remus war sich nicht sicher, ob das der richtige Begriff war. Seine bunten Cornrows hatte er locker nach hinten gebunden. Jetzt drehte er sich zu Remus um und lehnte sich gegen das Regal. 

"Ich arbeite ja gar nicht", erklärte er. "Ich hänge hier nur rum. Sortiere vielleicht ein paar Bücher. Nerve Yoon." Er zwinkerte Yuna zu, die schmunzelte, während sie am Verkaufstisch die bestellten Bücher alphabetisch sortierte. Remus seufzte. 

"Na gut", gab er nach. "Aber du kannst jederzeit gehen. Ich weiß, dass Luke noch Zeit mit dir verbringen wollte, bevor du morgen wieder fährst."

Jerry lächelte leicht. 

"Ich weiß", sagte er. "Aber wir waren gestern den ganzen Tag unterwegs und Luke ist gerade sehr...energiereich." Er zögerte. "Und ich muss einmal kurz durchatmen." 

Remus musterte sein Kind besorgt. Es war nicht typisch für Jerry, dass er sich von anderen zurückzog, wenn er eine Pause brauchte. Im Gegenteil, zumeist zog er Kraft daraus, unter Menschen zu sein. 

"Alles ok?", fragte er leise. Jerry nickte. 

"Nur...Kram", sagte er. Remus drückte seine Schulter. Als er merkte, wie sehr sich Jerry in die Berührung hinein lehnte, änderte er kurzerhand seine Strategie und zog ihn in eine kurze Umarmung, die sein Kind fester erwiderte, als er erwartet hatte. Remus' Vermutung, dass irgendetwas nicht stimmte, verfestigte sich. Aber er wusste, dass es nirgendwo hin führen würde, Jerry unter Druck zu setzen, ihm davon zu erzählen. Er würde von sich aus anfangen, zu reden, wenn er wollte. 

Eine Kundin bewegte sich in seinem Augenwinkel und musterte ihn ein wenig erwartungsvoll, also ließ er Jerry los, warf ihm einen kurzen, entschuldigenden Blick zu und wandte sich dann an die Frau, die seine Hilfe wollte, um ein bestimmtes Buch zu finden. 

Er führte sie in den Nebenraum, zeigte ihr das entsprechende Regal, dann fiel sein Blick auf die Kinderbuchecke, wo irgendjemand anscheinend nahezu alle Bücher herausgenommen und dann falsch zurückgestellt hatte. Mit einem kleinen Seufzen machte er sich daran, sie zu ordnen. 

Als er zurück in den Hauptverkaufsraum kam, saßen Jerry und Yuna gerade hinter dem Verkaufstisch. Anscheinend hatte Jerry ihnen Kaffee organisiert, denn sie hatten beide eine dampfende Tasse in den Händen und schienen sich zu unterhalten. 

"Wir sollten Remus überreden, auch mal Lesungen zu organisieren", sagte Yuna gerade. "Das klingt so cool!" 

Jerry grinste. 

"Tja, London hat auch seine Vorteile", berichtete er. "Letztens hat Stephen King bei uns eine Lesung gemacht, glaubst du das? Der Laden war voller als ich ihn je gesehen habe!" Seine Augen leuchteten und Remus schmunzelte. Es freute ihn immer noch, dass Jerry mit so großer Begeisterung Buchhändler war. Er hatte sich manchmal gefragt, ob er es einfach gemacht hatte, weil er keine wirklichen anderen Perspektiven gehabt hatte. 

Im Sommer 1988, dem Sommer, nachdem Sirius zu ihnen zurück gekommen war, hatte Jerry einen Versuch gemacht, seine GCSEs zu schreiben, den Schulabschluss, den die meisten Teenager nach der elften Klasse, also mit sechzehn hatten. Leider hatten die Lücken in Remus' Unterricht und seine Lese-Rechtschreib-Schwäche dazu geführt, dass er seine Englisch- und Matheprüfungen nicht bestanden hatte. Das schlimmste an der ganzen Sache war gewesen, dass er eigentlich mit Triveni Reza, seiner besten Freundin, die im gleichen Jahr ihre A-Levels geschrieben hatte, nach London hatte ziehen wollen. Dieser Traum war geplatzt. Oder, naja, zumindest verschoben worden. Triv war alleine nach London gezogen und hatte eine Ausbildung zur Friseurin angefangen.

Der Buchladen im LigusterwegWo Geschichten leben. Entdecke jetzt