Kapitel 13

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Lu's POV

Seit Stunden starrte ich nun schon an die Decke dieses fremden Raumes. Die Sonnenstrahlen schienen schon vereinzelt duchs Fenster und erhellten das Zimmer, doch ich konnte einfach nicht schlafen. Das Rauschen war lauter als sonst und die Gedanken bewegender.
Ich hätte mir beinahe das Leben genommen.
Ich hätte mich einfach beinahe in den Tod gestürzt.
Ich hätte alles hinter mir gelassen.
Meine Familie, Kate, meine Kollegen, meine Arbeit, Chris, meinen schrecklichen Alltag.
Mein Leben.
Ich hätte eine ganze Lebensgeschichte verschwimmen und verschwinden lassen. Meine Kindheit, meine Schulzeit, die Sommer und Winter, die ich wieder und wieder mit Freude genossen hatte, meine Studienzeit, alle Erinnerungen und schönen Momente hätte ich beinahe ausgelöscht.
Doch gleichzeitig wäre ich frei gewesen.
Frei von Chris, frei von meinem bedrückenden, wiederkehrenden Alltag, frei von den schlaflosen Nächten, frei von all meinen quälenden Gedanken die mein Leben zur Hölle machten.
Ich hätte meinen Frieden gefunden.
Und ich wollte doch nur das.
Ich wollte doch nur endlich Ruhe.

Wieder bahnten sich die Tränen ihren Weg nach draußen. Ich hielt nichts zurück, wie immer.
Ich war ein emotionales Wrack geworden, und doch fühlte ich mich leer und emotionslos.
Zitternd zog ich meine Beine an meinen Körper und begann immer mehr zu weinen.
So lag ich hier, in einem fremden Bett, in einem fremden Haus bei einer fremden Person, gerettet von einem Menschen den ich fast nicht kannte.
Ju hatte mich gerettet, das konnte ich nicht leugnen.
Und Annika hatte mich einfach aufgenommen.
Wenn sie denn Annika hieß, ich war mir nicht mehr sicher.

Gestern ging alles so schnell.
Sie hatte mich in ihre Wohnung gewiesen und die Tür geschlossen. Dann hatte sie mir etwas zu trinken angeboten und gefragt ob ich etwas essen wollte.
Ich war jedoch stumm geblieben, mich zu bewegen war schon anstrengend genug.
Da ich ihr nicht geantwortet hatte, zeigte sie mir kurz einen Teil ihrer Wohnung.
Die Küche, das Bad, ihr Zimmer und das Gästezimmer, in dem ich nun lag. Ich war regungslos neben ihr hergegangen, versuchte, ihr zuzuhören. Doch es gelang mir nicht.
Die ganze Zeit schwirrten meine Gedanken zurück zur Brücke. Wenn Ju nicht gewesen wäre hätte ich es getan, daran hatte ich keine Zweifel. Doch irgendwie hatte er mich wieder auf die andere Seite bekommen. Und ich hatte ihn umarmt, ich hatte seine körperliche Nähe zugelassen ohne nachzudenken. Er hatte mir das Gefühl von Geborgenheit und Verständnis gegeben, welches ich seit Jahren suchte. Es fühlte sich so gut an, ich hatte mich fallen lassen können und er hielt mich. Ich konnte alles ausblenden, für einen kurzen Moment. Und es hatte sich so gut angefühlt.
Wieso musste ich ihn dann wieder zurückweisen? Ich hasste mich selbst dafür aus seiner Umarmung gewichen zu sein. Es gab doch keinen Grund dafür, er hatte mir doch ausreichend oft gezeigt, dass er mir nichts tun würde.
Ich meine, Chris hätte mich nicht gerettet. Er hätte mich nach unten gestoßen und gelacht. Dieses dreckige Lachen hätte er von sich gegeben und dann wäre er nach Hause gegangen und irgendwann auch verreckt, weil es dann niemanden mehr gab der sich um ihn kümmerte. Niemand würde freiwillig jeden Abend zurückkehren und ihm Essen kochen, seine Wäsche machen, seine Sachen wegräumen und sein Leben generell organisieren. Niemand würd ihm sein Geld einbringen, es gab nur mich.
Und mir wurde klar, dass ich wieder zurück musste um all das zu tun. Zumindest sah ich keinen Ausweg. Ich war gefangen in diesem Teufelskreis und ich sah mich schon wieder an der Brücke stehen.

"Lu? Alles gut?"
Eine fremde Stimme riss mich aus meinen Träumereien und ich fuhr erschrocken herum. Am Türrahmen lehnend stand Annika in einem beigen Schlafanzug und schaute mich besorgt an. "Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken, nur mal nach dir schauen", meinte sie mit einem verständnisvollen, warmen Lächeln auf den Lippen.
"Darf ich mich zu dir setzen?"
"Ja klar, ist ja nicht mein Bett", antwortete ich mit rauer Stimme.
Langsam ging sie von der Tür zum Bett, ich rutschte etwas zur Seite und sie ließ sich nach hinten auf die Matratze fallen. Starr blickten wir gemeinsam gerade aus, durch die leicht von Fliegengitter verdeckte Scheibe auf die Stadt.

Gedankenverloren musterte ich die verschieden gebauten Häuser und Gebäude, die unterschiedlich großen, fast kahlen Bäume und die Menschen, die sich auf den Straßen vereinzelt aufhielten. Die Gegend sah immer noch so verlassen aus wie ich sie gestern wahrgenommen hatte.
Und trotzdem war ich hundert Mal lieber hier als zu Hause bei Chris. Lieber saß ich hier auf einem fremden Bett bei einer Person die ich nicht kannte, als in der Nähe von ihm zu sein.
Doch mir war klar, ich musste wieder zurück.
Ich wusste, dass ich dem hier nicht entkommen konnte.
Unmerklich rollten mir die Tränen wieder die Wange nach unten und ich hatte Annika schon komplett vergessen.

Bis sie mich plötzlich umarmte.
Unter normalen Umständen wäre ich zurückgezuckt, doch ich war zu schwach.
Annika drückte mich fest an sich und streichelte meinen Rücken.
Selten hatte ich diese Liebe in den letzten Jahren gespürt.
Ich schluchzte immer mehr, während sie mich einfach beruhigend im Arm hielt.
"Schhhh, alles ist gut. Ich bin da". Behutsam strich sie über meinen Kopf.
"Lass einfach alles raus. Und wenn du willst, rede dir von der Seele, was dich auch immer bedrückt, ich bin für dich da."
Weinend lag ich in ihren Armen und heulte mich aus. Sie wog mich hin und her, hielt mich fest und gab mir Geborgenheit.
Und plötzlich brach alles aus mir heraus.
Ich erzählte davon, wie ich hierher gezogen war, wie ich Chris kennengelernt hatte und mit ihm zusammen gekommen war.
Ich erzähle Annika, wie wir in eine Wohnung gezogen waren, wie wundervoll er mich behandelt hatte.
Und ich erzählte ihr, wie alles andere seinen Lauf genommen hatte.
Wie er mich geschlagen hatte, wieso er entlassen wurde, wie ich immer mehr zu seiner Dienerin wurde und wie ich zu der Person geworden bin, die ich nur war.
Auch die Begegnungen mit Ju ließ ich nicht aus. Ich berichtete ihr über meine S*izidgedanken, meinen letztendlichen Versuch, sprach davon, wie Ju mich gerettet hatte und wie ich mich fühlte.

Die ganze Zeit über war ich in Annikas Armen gelegen. In diesen warmen, auffangenden Armen, die keine Sekunde lockergelassen hatten. Arme, denen ich nach kurzer Zeit nun sehr vertraute.
Durchgehend hatte sie meinen Rücken gestreichelt und über meinen Kopf gestrichen und ich hatte jede körperliche Nähe zugelassen.

Nun war ich fertig, ich hatte mir jedes erdenkliche Wort von der Seele geredet. Langsam löste ich mich aus Annikas Umarmung und blickte in ihre dunkelbraunen Augen.
Eine Mischung aus Besorgnis und Mitleid spiegelte sich wieder.
"Du tust mir unendlich leid, niemand verdient, was du erfahren hast in den letzten Jahren, du erst recht nicht! Aber ich bin so stolz auf dich, dass du mir alles erzählt hast. Es kostet viel Überwindung, sich einen Menschen anzuvertrauen, aber du bist so unfassbar stark, dass du es geschafft hast. Ich bin wirklich sehr stolz auf dich!" Annika wollte mich ein weiteres Mal umarmen, doch meine in Fleisch und Blut übergegangene Angst ließ mich zurückzucken. Mitfühlend schaute sie mich an. "Es tut mir leid", flüsterte ich. "Du musst dich für nichts entschuldigen, du hast schon genug getan, ja?", erwiderte Annika mit einem sanften Lächeln.
"Willst du etwas frühstücken?"



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Es ist eigentlich unfassbar, aber nach weiß ich nicht wie vielen Wochen konnte ich mich dazu aufraffen, weiterzuschreiben🥹
Eigentlich unglaublich 🙃🤭
Ich hoffe ihr mögt das Kapitel💜🫶🏻
Schöne Woche euch<33

But who fights for you? || Julien Bam ffWhere stories live. Discover now