Tag 100 // Tag 99

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Tag 100

Ich werde sterben. Das ist mein Schicksal.

Ich war achtzehn Jahre alt, todkrank und dabei, mich damit zu arrangieren.

Was ich nicht verkraftete, war die Tatsache, dass ich anscheinend auch verrückt wurde.

Mit zusammengebissenen Zähnen lenkte ich meine Schrottkarre von Wagen durch den trägen Morgenverkehr. Ich lag gut in der Zeit, um die erste Unterrichtsstunde pünktlich zu schaffen, auch wenn die Schule für mich nur noch ein Zeitvertreib war, um nicht den Verstand zu verlieren. Was offensichtlich nichts brachte.

»Hau ab!«, zischte ich genervt und starrte im Rückspiegel auf den Straßenrand, an dem ein Junge mit schwarzen Haaren und Augenringen stand. Er verfolgte mich seit anderthalb Jahren, aber hielt sich immer in der Ferne. Ich hatte noch nie mit ihm gesprochen und auch sonst kam er mir nicht bekannt vor.

Aber ich bemerkte ihn aus dem Augenwinkel, wenn ich morgens aus dem Haus trat und abends wieder heimkam. Er rührte sich nicht und als ich meinen Blick abwandte und dann wieder hinsah, war er verschwunden.

Er war eine Halluzination. Ich wusste das, weil ich meine Mutter gefragt hatte, ob sie den krank aussehenden Jungen auch sah und sie mich daraufhin noch beunruhigter angesehen hatte.

Dinge zu sehen, die nicht da waren, war eines der Symptome für ein Glioblastom und einer der Gründe, warum ich eines Tages in der Sprechstunde des Neurologen im Krankenhaus gesessen hatte, um mich durchchecken zu lassen.

Was folgte, waren eine lange Reihe an Bildgebungsverfahren, Anamnesegesprächen und Tests aller Art.

Die Antwort auf den Jungen im Rückspiegel war Krebs.

Ich bog um eine Ecke und entdeckte ihn an einer Bushaltestelle. Die Beanie auf dem Kopf war leicht verrutscht. Genervt schloss ich die Augen und öffnete sie wieder. Sie wanderten automatisch zum Seitenspiegel. Er stand noch da.

»Niemand mag solche Menschen«, murmelte ich, wohlwissend, dass er definitiv kein Mensch war. Aber so mit ihm zu sprechen, gab mir das Gefühl, mich nicht in der nächsten Ecke vor und zurück wiegen zu müssen.

Als ich auf den Parkplatz der Schule einbog, war er verschwunden und ich atmete erleichtert auf. Meistens ließ er mich in den Unterrichtsstunden in Ruhe.

In einer fließenden Bewegung steckte ich mir einen Ohrstöpsel ins Ohr und schwang mir meine Tasche über die Schulter. Dann stieß ich schwungvoll die Tür meines ausgedienten Autos zu. Die Beifahrertür klemmte und die Klimaanlage war hinüber. Aber ich liebte es, weil es seine besten Zeiten schon hinter sich hatte. Es gab niemanden, den ich mitnehmen konnte und ich fuhr ohnehin lieber mit heruntergelassenen Fenstern.

Ich quetschte mich durch eine Gruppe von Schülern, die den Weg zwischen zwei Wagen versperrten, und lächelte halbherzig über die Bemerkungen, die sie mir hinterherriefen. Ich zeigte ihnen über meiner Schulter den Mittelfinger und setzte meine Sonnenbrille auf. Dann schlenderte ich lässig über die Pflastersteine zum Eingang meiner Schule.

Dort bahne ich mir einen Weg zu meinem Schließfach. Ich ignorierte Zoey und Bianca, die auf dem Schulflur standen und mich musterten, obwohl wir die Middle School gemeinsam hinter uns gebracht und auch die ersten Jahre auf der Highschool zusammen durchgestanden hatten. Wir waren ein Team gewesen.

Aber nach meiner Diagnose und der Chemo danach hatte ich den Kontakt abgebrochen. Wir waren wie die Mean Girls gewesen und mir fehlte schlichtweg die Kraft, um diese Fassade weiterhin aufrecht zu erhalten.

Ein Rockband schmetterte einen grandiosen Song in meinen Ohren, als ich meine Bücher aus dem Schließfach holte und sie unter den Arm klemmte. Dann machte ich mich auf den Weg zu Mathe und trommelte mit meinen Fingern leise den Takt auf den Umschlägen mit.

The Bucket ListWo Geschichten leben. Entdecke jetzt