Tag 94 // Tag 90

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Tag 94

»Und was empfindest du dabei?«, fragte meine Therapeutin Dr. Della Bryson. Sie war eine ältere Dame, mit klassischer Hornbrille und Dutt auf dem Kopf. Sie trug einen weißen Arztkittel über ihrem himmelblauen T-Shirt.

Ich saß auf einer braunen, abgewetzten Ledercouch, die einen tief in sich versinken ließ. Meine Therapeutin saß mir gegenüber auf einem Sessel, ein Klemmbrett auf ihrem Schoß und ein Stift in ihrer Hand. Aus ihren grauen Augen musterte sie mich immer, so dass ich mich bei unseren Sitzungen vorkam wie in einem Vorstellungsgespräch. Eine falsche Antwort und man hatte verloren.

»Wut. Ärger. Ich würde es bevorzugen, dass er mich in Ruhe lässt«, antwortete ich. Es war Mittwochmorgen und wir sprachen über Kyle. Denn jeden Mittwochmorgen sah mein Stundenplan eine Lücke vor, in welcher ich statt Spanisch eine Stunde Gefühlsduselei hatte.

»Vielleicht würde es dir guttun, wenn du mit Menschen in Kontakt kommst.« Sie schaute mich über den Rand ihrer Brille hinweg an. Ich zuckte die Schultern.

»Ich komme schon klar«, wehrte ich sie ab.

Sie seufzte. »Jo, ich weiß, du lässt niemanden an dich heran, aber noch bist du nicht gestorben. Und ich glaube, es würde dir helfen, diesen Weg mit Leuten zu bestreiten, denen etwas an dir liegt.«

»Kyle Thompson liegt nicht das Geringste an mir«, presste ich hervor. Dr. Della Bryson seufzte wieder. Sie wusste, dass ich jetzt dicht machte. Es war eine Sache, zum Therapeuten zu gehen, weil die Familie es verlangte, aber eine ganz andere, dort seine ganzen Gefühle auszubreiten. Meine Mutter wollte, dass ich professionelle Sterbebegleitung erhielt und nebenbei an meiner angeblichen Depression arbeitete. Ja, vielleicht hatte ich depressive Gedanken, aber ich wollte das für mich allein regeln. Ich würde allein sterben, also wollte ich mich auch allein darauf vorbereiten.

Manchmal wachte ich nachts schweißgebadet und schreiend auf, weil ich wieder vom Tod träumte. Tagsüber, in der Realität, versuchte ich mein Date mit dem Sensenmann zu verdrängen. Ich wollte nicht darüber nachdenken, wie früh ich sterben und wie viel ich dadurch verpassen würde. Ich wollte nicht darüber nachdenken, dass ich nie Kinder kriegen würde, nie einen Uni-Abschluss in der Tasche haben und nie die Weiten der Welt erforschen würde.

Aber das Schlimmste neben all diesen Türen, die am Tag meiner Diagnose gleichzeitig zugeschlagen waren, war, dass ich nicht mal ein halbwegs passables Leben vorweisen konnte. Die Leute würden nicht dastehen und betrauen, wie jung ich gestorben war und wenigstens den Trost haben, zu wissen, dass ich bis dato ein supertolles Leben hatte. Sie würden doppelt weinen. Wegen meines Todes und meines Lebens.

Ich hatte nie richtig gelebt. Klar hatte ich dumme Dinge getan, geraucht, getrunken und mich treiben lassen. Aber ich hatte nie etwas getan, das mich erfüllt hatte oder mir das Gefühl gab, angekommen zu sein. Ich hatte mich nie auf jemanden eingelassen, hatte nie ein Risiko gewagt und nie irgendwas erlebt, dessen Erinnerung mir auch nach Jahren noch ein nostalgisches Lächeln ins Gesicht zaubern würde.

Wie jeder Jugendliche in meinem Alter hatte ich geglaubt, ich hätte noch Zeit. Zeit, um Fehler zu machen und Zeit, um sorglos zu leben.

Stattdessen wurde meine eigene Endlichkeit plötzlich real und statt Partys und Collegewünsche befasste ich mich mit meiner fehlenden Zeit.

Also ja, ich war wütend und ich war depressiv. Aber das Letzte, was ich gebrauchen konnte, war eine dämliche alte Schreckschraube, die mir meine kostbare Zeit stahl.

Aufgebracht fuhr ich zur Schule. Einen Moment blieb ich noch im Auto sitzen und atmete tief durch.

Ich würde nie einen Abschluss machen, nie mit meinen Freunden - die es nicht gab - zum Abschlussball gehen, mit ihnen tanzen und feiern.

The Bucket ListWo Geschichten leben. Entdecke jetzt