Kapitel 12

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Wieso habe ich ihn noch nie hier gesehen? In diesen sechszehn Jahren, die ich in dieser Kleinstadt lebe, müsste ich ihn doch wenigstens einmal gesehen haben. Vielleicht ist er vor kurzem hier in die Stadt gezogen? Aber er und Cihan kennen sich doch und waren früher gut befreundet, also kann das nicht sein oder er ist aus einem anderen Wohnblock hierhergezogen. Wieso denke ich überhaupt an ihn? Das ist irrelevant. Ich komme gerade zu Hause an, wo ich von meiner Mutter aufgefordert werde zum Lidl zu gehen, um geriebenen Käse zukaufen. Also stelle ich meine Tasche ab, nehme das Geld aus dem Portmonee meiner Mutter und laufe wieder raus. Auf dem Weg zum Lidl höre ich Musik. Das mache ich immer, so fühle ich mich nicht alleine. Ich laufe den fünfminütigen Weg und komme an. Als ich an der Gemüsetheke vorbeilaufe, sehe ich eine Frau mit stechend gelben Augen. Sie kommen mir so bekannt vor, aber woher kenne ich sie? Sie sind so schön. Ich bin dabei weiterzulaufen und mir den Kopf zu zerbrechen, woher ich diese Augen kenne, bis das Rätsel gelöst wurde. Can, wer sonst? Keiner hat solche leuchtend gelb-braunen Augen, wie er. Seine Mutter fängt an ihn anzumeckern, weil er den falschen Kohl geholt hat. Sie sprechen denselben Dialekt wie ich. Nicht, dass meine Mutter sie kennt. Diese Situation, in der er Ärger bekommt ist sehr amüsant zu betrachten, aber trotzdem laufe ich weiter. Nicht dass sie denken, dass ich sie beobachte. Na ja, beobachten tue ich sie, aber, wenn sie mich erwischen würden, wäre es sehr peinlich. Ich lasse mich nicht weiter ablenken und laufe weiter, kaufe zwei Tüten geriebenen Käse und laufe nach Hause.

Als ich zu Hause ankomme, erzähle ich meiner Mutter, dass Cihan auch auf meiner Schule ist und dass wir heute miteinander geredet haben. Es irgendwie versucht haben, bis Malik dazwischenkam, aber das lasse ich raus beim Erzählen. "Sie kommen heute zum Essen. Räum die Wohnung auf, los!" Genervt seufze ich. Ich hasse Besuch! Immer, wenn sie kommen, bleibe ich in meinem Zimmer, um sie nicht begrüßen zu müssen. Aber heute muss ich es oder werde gezwungen, weil ein Kindheitsfreund dabei ist. Schon komisch, wenn man bedenkt, was heute passiert ist. Nach den gefühlten zwei Stunden aufräumen und putzen, kommt mein Vater nach Hause und ungefähr zwanzig Minuten später Cihan und seine Familie. "Shana, yallah wera. Besuch ist da!" Ich stehe also auf und laufe zur Tür, aber weiß ganz genau, dass sie sich erst auf dem Weg begeben, nach oben zu kommen. Irgendwie bin ich aufgeregt. Sie waren so lange nicht mehr bei uns. Und Cihan hat sich stark verändert. Ich warte, bis sie kommen, was sie auch nach gefühlten fünf Minuten tun. Zuerst begrüßt mich die Mutter von Cihan mit einem Küsschen links und rechts. "Mashallah, groß bist du geworden und so hübsch!" War ich früher etwa hässlich? Egal. Ich lächele einfach nur. Dann begrüßt mich sein Vater, lächelt mich warm an und gibt mir die Hand. "Çawani?", fragt er. Es ist eigentlich eine rhetorische Frage - meines Erachtens -, denn ich kenne niemanden, der bei uns auf ein Wie geht es dir? mit Schlecht antwortet. "Bashim, tu çawani?" "Auch gut, danke dir." Dabei lächelt er immer noch sehr warm. Beide gehen mit meinen Eltern ins Wohnzimmer. Ich mochte Cihans Eltern schon immer. Selbst zu meinen Zeiten, in denen ich immer aggressiv und beleidigt war, haben sie mich immer aufgemuntert und haben Cihan angemeckert, damit ich lache. Rojin, seine kleine zehn jährige Schwester, sagt nur kurz Hallo und läuft zu meiner gleichaltrigen Schwester Hivi. Zu guter Letzt tritt auch Cihan ein, den ich aber nicht angucke, warum auch immer. Vielleicht wegen der Sache mit Malik. "Willst du mich nicht auch Begrüßen?", fragt er mit einem schelmischen Grinsen. Ich mache die Tür zu und ignoriere seine Frage. "Setz dich ins Wohnzimmer", sage ich monoton und laufe ins Wohnzimmer. Unsere Eltern unterhalten sich prächtig und sehr laut, typisch. Da ich nichts mit der Familie, über die geredet wird, anfangen kann, beschließe ich aufzustehen, um in mein Zimmer zugehen, doch Cihans Vater kommt mir zuvor. "Shana du gehst auf dieselbe Schule, wie Cihan habe ich gehört." Er lächelt mich wieder so herzlich an. Ich mag sein Lächeln sehr. "Ja, das stimmt." "Was möchtest du denn studieren, nach dem Abitur?" "Wenn ich es schaffe Medizin", antworte ich lächelnd. "Inshallah schaffst du es. Ich kann mir dich als Ärztin sehr gut vorstellen." Dabei zwinkert er und ich lächele verlegen. "Cihan, was willst du denn danach studieren?", fragt mein Vater. "Ingenieurwissenschaften.", sagt Cihan. Davon hat er schon immer geträumt. Er wollte immer ein Architekt oder Bauingenieur werden. "Shana, wenn du willst könnt ihr beide raus, bis das Essen fertig ist." Moment mal. Hat meine Mutter das jetzt ernsthaft gesagt? Nicht, dass ich jetzt mit ihm verkuppelt werde, denn Heiraten werde jetzt ich nicht! Obwohl? Das kann gar nicht stimmen, da meine Mutter meinte, dass ich erst mit fünfundzwanzig heiraten darf. Für meine Eltern geht die Bildung vor. "Ja, komm Shana", mischt sich Cihan amüsiert ein. Deine Mutter will dich loswerden, trichtere ich mir selber ein.

Da es unhöflich wäre Nein zu sagen, habe ich keine andere Wahl. Ich ziehe also meine Schuhe an und warte bis Cihan sich seine Schuhe anzieht. Als das auch geschafft ist, gehen wir raus und laufen herum. Das ist so komisch. Ich darf plötzlich mit einem Jungen raus? Das ist so komisch, ich kann es nicht beschreiben. Ich kann nicht mit ihm reden, es war zulange her, um wieder wie in alten Zeiten zu reden. "Weiß deine Mutter, dass du mit Malik zusammen bist?" Oh mein Gott! Malik, ich bringe dich um! Ich schaue geschockt zu ihm. "Wir sind nicht zusammen und werden es niemals sein!" "Wieso hat er dich dann heute Schatz genannt?" Scheiße, stimmt. Was soll ich sagen? "Ähm, weil ich es nicht mag so genannt zu werden und er mich damit ärgert", lüge ich und versuche so normal wie möglich zu klingen. Das war knapp. "Ach so, also hast du keinen Freund?" Ich mag diese Frage nicht. "Nein." "Ach so, gut zu wissen." Ich ziehe die Augenbrauen zusammen und schaue zu ihm. "Was ist gut zu wissen?" "Ach nichts, lass uns dahin. Ich will mich hinsetzen." Wir laufen zu den Hockern, die gegenüber dem Kiosk sind und ungefähr bis zu den zwei Wohnhäusern gehen. Bis zur Sodingerstrasse 4 und 6 um genau zu sein. Vor dem ersten Wohnhaus setzen wir uns auf die Steinhöcker. Er klärt sich jedes Mädchen und sucht sich jeden Tag eine Neue, die er benutzen kann. Maliks Worte kommen mir wieder in den Sinn. "Hast du eine Freundin?" Nun schaut er mich an und lächelt. Hoff nicht, dass ich etwas von dir will! "Nein, bis jetzt nicht." Vielleicht hat er sein neustes Mädchen schon längst weggeschmissen, man weiß ja nie. Wir reden noch eine Weile, aber nicht über Beziehungen oder über Jetziges, sondern über die alten Zeiten. Jetzt kommt er mir nicht mehr so komisch vor, sondern so wie früher. Er, der mich immer zum Lachen gebracht hat und mich geärgert hat. Ich glaube, meine Schwäche ist, dass ich mich bei sehr sympathischen, offenen Menschen sehr schnell öffne. Was ich aber gar nicht will, denn selbst sie, die Menschen, die einem so vertraut vorkommen, können einem ein Messer in den Rücken rammen. "Weißt du noch, als du einen Teller kaputt gemacht hast, geweint hast und ich Ärger bekommen habe dafür?", sagt er, während wir beide am Lachen sind. "Da hatte ich doch ein weißes Kleid an und einen Hut auf. Du hattest einen Anzug an, weil wir auf eine Hochzeit gehen wollten. Ich hab' noch die Bilder zu Hause." "Zeig mir später alle. Wie alt waren wir da? Vier, fünf?", fragt er mich lachend. Er ist doch noch so wie früher. Wir unterhalten uns noch ein wenig, bis meine Mutter mich anruft, damit wir zum Essen kommen. "Meine Mutter hat angerufen. Das Essen ist fertig." "Okay, aber danach zeigst du mir unbedingt die Bilder", fordert Cihan mit glänzenden Augen. "Ja, mache ich", versichere ich ihm lächelnd.

Wir kommen zu Hause an, wo wir uns direkt in die Küche setzten und essen. Dabei reden unsere Eltern wieder die ganze Zeit. Nach dem Essen zeige ich Cihan die Bilder. "Da ist das Bild mit dem Teller." Ich zeige auf das obere Bild im Album und danach noch viele andere Bilder. "War das nicht bei uns in Wuppertal, auf dem Spielplatz?" Cihan hat früher, vor ungefähr zwei Jahren in Wuppertal gelebt. "Ja, ich wollte nie, dass du auf das Pferd gehst, deswegen bin ich immer dahin gerannt", gestehe ich mit einem verstohlenen Blick, woraufhin wir wieder lachen und uns weitere Bilder ansehen. Wir haben jetzt 23:38 Uhr und Cihans Familie erhebt sich, um nach Hause zugehen. Ich mache meine Abendroutine und lege mich schlafen. Bevor ich einschlafe, blinkt mein Handy auf, trotzdem lasse ich mich nicht davon beirren und schlafe ungefähr drei Minuten danach ein.

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Lest euch einfach mal die Sätze nach der fremden Sprache durch. Ich bin mir sicher, dass man es versteht.

-Helo

ArroganzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt