22| Einsame Welt der Dunkelheit

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Ich war nun bereits seit mindestens zehn Minuten daran, diesen gottverdammten Hasen zu suchen. Andauernd rief ich: „Hoppy Hasi, komm her zu Mama", doch ich bekam keine Antwort, was mich verdammt wütend machte. Das schlimmste war jedoch mein ständiges Hecheln, denn mal unter uns: Das Wort Ausdauer kannte ich nicht.

Ich war so dumm gewesen und war wirklich die ganze Zeit über gerannt, was so im Nachhinein einer der dümmsten Ideen war, die ich jemals in meinem Leben hatte. Denn mein Fokus auf diesen Hasen hatte mich nun irgendwohin gebracht, wo ich selber nicht einmal wusste, wo ich war.

Angepisst trat ich gegen eine Laterne, die sich direkt neben mir befand. Ich stand an einem Waldrand. An welchem genau wusste ich jedoch nicht. Es gab hier in der Nähe nur einen und das war zeitgleich auch der, der hinter der Schule war. Aber Phil wohnte auf der anderen Seite des Waldes – und das war nicht unbedingt nah. Ich war aber ja auch eine gute Weile unterwegs und da ich gerannt war, konnte ich jetzt gefühlt überall sein.

Naja, überall am Wald. Ich kannte mich nicht aus im Wald, nur, wenn man von der Schule aus hineinging. Aber wie dumm wäre ich, wenn ich tatsächlich den Wald betreten hätte? Das wäre wirklich echt verdammt dumm, schließlich wollte ich mein Todesurteil nicht unterschreiben.

Aber da es falsch kommen würde, wenn ich am Rand einer schmalen Straße stehen bleiben würde, verbarg ich mich zwischen zwei Bäumen. „Scheiß Hase", murmelte ich und setzte mich auf den Boden. Gras rupfend lehnte ich mich gegen einen Baum und schloss meine Augen. So ziemlich dumm vorkommend versuchte ich, meine Situation zu ignorieren.

Und zwar, dass ich – betrunken und verloren – alleine am Rand eines Waldes war, schutzlos. Ohne irgendetwas, was mir auch nur annähernd hätte helfen können. Wo war meine Tasche überhaupt? Überlegend kniff ich meine Augenbrauen zusammen – meine sich anschleichenden Kopfschmerzen ignorierend – und dachte darüber nach, wo ich meine Tasche hatte liegen lassen können. Vielleicht an der Bar? Ich war dort verhältnismäßig lange und konnte mir nicht vorstellen, die ganze Zeit meine Tasche umgehängt gehabt zu haben.

Oder ich hatte sie auf dem Weg verloren. Irgendwie brachte mir das Nachdenken nichts, also ließ ich es sein und lauschte der Umgebung. Ziepen, Geraschel, Eulen, Schritte, Knacken, Gemurmel, Äste, Wind.

Sofort riss ich meine Augen auf und hörte der Umgebung genauer zu. Irgendwie musste ich anfangen zu lachen, als ich daran dachte, dass ich jetzt total verloren war – wie Leute in solchen Büchern. Aber mal ernsthaft. Wer zum Teufel lief nachts durch die Gegend in einem gottverdammten Wald? Die Luft anhaltend lauschte ich dem Gemurmel, welches von irgendwo ertönte. Verdammt sei meine Orientierungslosigkeit.

„Hallo? Ist da jemand?", ertönte eine Stimme, die definitiv angetrunken und nicht zurechnungsfähig klang. Es war meine eigene Stimme.

Himmel, bist du dumm! So dumm ist man doch nur in Horrorfilmen, wenn man irgendwo alleine ist und dann fragt, ob jemand da wäre. Stell dir vor, da ist jetzt wirklich irgendein Freak, Krimineller oder sonst etwas. Glaubst du, die antworten dir? Vielmehr würden die dich auslachen und ihren Hunden zu Fressen geben.

Hunde essen keinen Menschen.

Die Stimmen und Schritte verstummten, ich hörte lediglich noch die Töne der Natur. Waren sie weg? Vielleicht. Wegen der Dunkelheit konnte ich hauptsächlich nur die Silhouetten der Bäume sehen und gelegentlich sah ich kleine Wesen vorbeihuschen, die ich Tieren zuordnen konnte. Welche genau es waren, wusste ich nicht, aber das war nicht einmal wichtig.

Als ich nichts mehr hörte, seufzte ich erleichtert auf und schloss die Augen wieder, doch dann fing das Gemurmel an.

Auf einmal schoss mir ein Bild von einem kleinen, schwarzhaarigen Mädchen durch den Kopf, welches mich mit großen Augen anblickte. Ihre Haare hingen nass an ihrem Gesicht, ebenso ihr zerfetztes Nachthemd und sie hielt eine kleine Puppe eng an ihre Brust gedrückt.

Schlagartig wand ich mich, riss die Augen auf und versuchte, das Bild loszuwerden. „Verschwinde" , schrie ich und krallte mich an meine Haare. Doch sie verschwand nicht. Im Gegenteil. Ihr Erscheinen wurde noch schärfer, jeder Kratzer an ihrem Körper sichtbar, die Angst förmlich in ihr Gesicht gemalt. „Hilfe", murmelte sie, ehe sie anfing zu schreien – und mit ihr auch ich.

Von der Furcht ließ ich mich lenken. Eilig war ich aufgestanden und weggerannt, doch das Schreien verfolgte mich. Ich hörte es dicht hinter mir und jedes Mal, wenn ich mich umdrehte, war dort eine Silhouette eines Kindes. Panik erfüllte mich.

Es war ungewohnt, dass mich solche Träume verfolgten, wenn es nicht gewitterte. Oder ich Erscheinungen hatte, im richtigen Leben. Solch realistische Erinnerungen.

„Claire, bist du das?", ertönte eine Stimme, die nicht in die Situation passte. „Verschwinde endlich, lass mich in Ruhe", schrie ich erneut und rannte weiter, am Ende meiner Kräfte.

Auf einmal hatte ich nicht mehr das Gefühl, als würde ich mich im Wald befinden; viel mehr, als hätte die Dunkelheit mich erneut verschluckt und Teil von sich selbst gemacht. Als wäre ich in einer anderen Welt, in welcher es niemand Lebendes gab außer mich und ihrer Leiche. Lärm umgab mich, zu viele Stimmen, zu viele Aussagen, Beleidigungen, Beschuldigungen, zu viel Hass.

Somit blieb ich stehen, kauerte mich auf den Boden zusammen und versuchte die Geräusche mit meinen Gedanken zu übertönen. Stattdessen nahm ich aber jedes Geräusch noch besser wahr.

Mit einem Schlag fühlte ich mich alles andere als betrunken, aber ob man meinen Zustand als nüchtern bezeichnen konnte? Es war, als wäre ich in einer Art Panikstarre, weder fähig klar zu denken, noch etwas anderes zu registrieren als meine Angst. Das traurig verzweifelte Gesicht blickte mich mit bösen Blicken an, schien mich nahezu mit eben diesen erdolchen zu wollen. „Das ist alles deine Schuld", zischte sie, ehe das Bild verschwand und von einer Gasse ersetzt wurde, in der sich nichts weiter befand als eine große Blutlache auf dem Boden.

„Es tut mir leid. Ich wollte es nicht", murmelte ich vor mich hin und versuchte, meinen Blick von der Blutlache wegzulenken; doch erfolglos. Immer wieder murmelte ich diese Worte, ließ mich dabei vor und zurückwippen.

„Mir tut es auch leid, aber das muss sein", vernahm ich am Rande meines Bewusstseins, ehe mich ein starker Schmerz an meiner Wange durchzuckte.

Benommen schaute ich in zwei blaugrün besorgte Augen, die mich aufmerksam musterten, während meine Hand sich mechanisch auf die geschlagene Stelle legte. Sofort ordnete ich diese Dean zu, doch reagierte dennoch nicht. Ich sah, wie sein Mund sich bewegte, doch hörte ich nichts außer den Stimmen.

„Du bist Schuld. Ohne dich wäre alles besser hier. Ich wünschte, du wärst tot. Nichts bringst du uns, außer Pech. Deine Geburt war ein schrecklicher Fehler deiner Eltern. Sie musste den ganzen Schmerz nur wegen dir durchmachen. Wie kannst du so weiterleben?"

Mein Blick schweifte über seine Schulter und erblickte Phil, Jason, Nathan und Liz. Ein Schluchzen entfloh meiner Kehle. Mit einem Mal warf ich mich weinend in Deans Arme und ließ mir von ihm den Rücken streicheln.

„Es ist in Ordnung, Claire. Ich bin für dich da, Kleines."

So, hier ist das nächste Kapitel.
Freue mich über Votes und Kommentare~

Und gute Besserung an alle, die bei diesem Temperaturwechsel erkältet sind. :)

XX, T~

Please, not again ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt