Tag 76 // Tag 74

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Tag 76

Nachdem die Euphorie des Sieges abgeklungen war, war es Zeit für neue Glücksmomente. Am Sonntag entschied ich mich ganz bewusst dafür, dass ich einmal vor allen anderen aufstehen wollte.

Obwohl ich meinen Wecker verfluchte, der mich vier Uhr morgens aus dem Schlaf riss, quälte ich mich aus dem Bett und zog mich halbherzig an. Dann schnappte ich mir eine Decke und schlich mich leise aus dem Haus. Mortem erwartete mich auf der Straße.

Die Nachtluft draußen war kühl, aber angenehm. Die Dämmerung setzte langsam ein und sorgte dafür, dass ich nicht im Dunklen vor mich hin stolperte.

Ich hatte Musik in den Ohren und bahnte mir einen Weg aus meinem Viertel heraus. Mortem lief stillschweigend neben mir her, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Die Straßen waren verlassen und in keinem der Häuser brannte Licht. Ich rammte meine Fäuste tiefer in meine Taschen und setzte einen Fuß vor den anderen. Es hatte etwas Unglaubliches an sich, allein durch die Stadt zu laufen, während alle noch schliefen.

Da ich ziemlich am Stadtrand wohnte, lief ich nicht lang, bis nur noch Natur um mich herum war. Und der Geruch von Schafsdung.

Als ich das Gefühl hatte, an der höchsten Stelle angekommen zu sein, ließ ich mich im Gras nieder und wandte mich gen Osten. Man sah schon die erste Morgenröte über den Himmel kriechen und ich lächelte.

Die Sonne kreierte ein Farbspektakel und untermalt mit meinem Soundtrack wurde dieser Moment wahnsinnig kostbar. Ich stellte fest, dass man manche Momente gar nicht teilen musste. Manche Momente musste man allein erleben und hier zu sitzen und den Sonnenaufgang zu genießen, war ein solcher. Wir lebten zu schnell und zu gehetzt. Und wenn man nicht ab und zu stehen blieb, dann verpasste man einen perfekten Augenblick.

Als ich zurück nach Hause kam, war es hell draußen und es versprach ein warmer Tag zu werden. Einige mutige Menschen standen schon auf und machten sich auf den Weg, um ihre Sonntagszeitung und die Frühstücksbrötchen zu besorgen.

Meine Mutter kam gerade die Treppe herunter, als ich die Tür aufschloss.

»Jo«, sagte sie überrascht. »Wo kommst du denn her?«

»Ich habe den Sonnenaufgang beobachtet«, erwiderte ich plump und zog meine Jacke aus. Meine Mutter stellte keine weiteren Fragen. Sie wusste, ich tat das, weil ich jeden Moment auskosten wollte.

»Wollen wir heute einen Ausflug machen?«, fragte sie mich später, als sie sich Kaffee machte. Ich schüttelte den Kopf.

»Ich will einfach nur ein bisschen fernsehen, okay?«, entgegnete ich und quälte mir ein Stück Brot rein.

»Du warst gestern lange weg«, sagte sie beiläufig.

»Ich habe mir ein Fußballspiel angesehen. Mit, na ja, mit einer Freundin. Unsere Mannschaft hat gewonnen. Wir sind im Finale.«

»Wer ist denn diese Freundin?«, fragte Mum neugierig. Ich verdrehte die Augen.

»Einfach nur ein Mädchen. Nichts Weltbewegendes«, spielte ich es runter. Ich wollte die Hoffnung in den Augen meiner Mutter nicht sehen. Wollte nicht sehen, wie sehr sie sich wünschte, ich würde in meinen letzten Tagen noch einmal richtig leben. Ich wollte das auch, keine Frage.

Aber was die meisten Leute nicht wissen, ist, dass einem der Mut schwindet. Viele behaupten, sie würden in ihren letzten Tagen eine Weltreise unternehmen, den Himalaya besteigen, eine Woche durchfeiern oder den Spring Break besuchen. Was sie nicht berücksichtigen, ist der Grund, warum man nur noch wenige Tage hat. Man stirbt nicht einfach so. Niemand kennt das Datum. Aber die Handvoll Menschen, die wissen, dass das Date mit dem Sensenmann bald vor der Tür steht, sind krank oder ähnliches. Und wenn man sich jedes Mal übergibt, wenn man das Falsche isst und Krampfanfälle einen einfach so überkommen, dann ist eine Reise nach Indien eben nicht das, was man in seinen letzten Tagen veranstalten konnte.

The Bucket ListWo Geschichten leben. Entdecke jetzt