Prolog

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Die Welt wankte um ihn herum, als wäre sie völlig aus den Fugen geraten. Immer wieder flackerte seine Sicht, färbte sich grau und schwamm dann wieder in wilden Farben, die an seinen Pupillen zu zerren schienen. Das Rauschen seines eigenen Blutes dröhnte ihm in den Ohren und seine Lunge zog sich krampfartig zusammen. Leuchtend rot glänzte das Blut auf seinen Händen. Von dem Geruch wurde ihm ganz schwindelig. Er wollte nichts lieber, als in schwarzer Ohnmacht zu versinken, in den Schatten, die am Rande seines Gesichtsfeldes flackerten, einfach liegen bleiben und vergessen.

Nein!

Er durfte nicht. Mühsam rappelte er sich auf die Beine. Seine Knochen waren gleichzeitig aus Gummi und zentnerschwerem Blei. Ishiro lag auf dem Rücken. Er sah schlimm aus, sehr schlimm. Die Wunden auf seiner Brust quollen über vor Blut. An einer Stelle schien eine Rippe hindurchzuschimmern. Was hatte er nur getan? Sein Magen drehte sich um, würgend beugte er sich zur Seite und erbrach sich in das grüne Gras. Alles in ihm schrie danach einfach aufzugeben, aber wenn er das tat, war Ishiro verloren. Noch konnte er den Herzschlag seines Freundes hören, noch bestand Hoffnung. Die Bewegungen kosteten viel Kraft, doch schließlich lag Ishiro auf dem Beifahrersitz des Wagens. Er tastete nach dem Erste-Hilfe-Koffer, doch statt Fingern schabten scharfe Krallen über den Lack und hinterließen tiefe Kratzer. Die Verwandlung überrollte ihn wie eine gigantische Flutwelle. Das Stöhnen, das aus seiner Kehle kroch, verwandelte sich in ein durchdringendes Heulen. Wütend schlug er gegen die Autotür, an der sofort eine große Delle prangte. Er hatte es unterschätzt, hatte nicht gewusst, dass es so schwer sein würde. Er war ein Idiot gewesen.

Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis er sich endlich hinter das Steuer setzen konnte und seine zitternden Hände den Schlüssel drehten und den Gang einlegten. Ishiro rührte sich nicht. Seine Brust hob und senkte sich kaum, doch sein Herzschlag war immer noch zu hören.

Hoffnung.

Hoffnung.

Hoffnung. Doch das Geräusch konnte sich allzu schnell verlieren. Also drückte er das Gaspedal durch und raste los. Immer wieder ertönte das Quietschen von Reifen oder ein Hupen. Die schnellen Bewegungen verschwammen vor seinen Augen, er fand kaum den Weg. Verbissen kämpfte er darum den Wolf in seinen Käfig zu sperren, um das Leben seines Freundes zu retten, das er selbst in Gefahr gebracht hatte.

»Halte durch, Kumpel«, flehte er. »Bitte halte durch!« Er erkannte seine eigene Stimme nicht.

Ishiro schwieg. Sein Blut tränkte die teuren Sitze des Wagens. Endlich tauchte das weiße kastenförmige Gebäude vor ihnen auf und die Hoffnung leuchtete hell auf wie ein Signalfeuer. Ruckartig hielt er den Wagen an, sprang heraus und ging beinahe in die Knie. Der Wolf kämpfte und brüllte in seiner Brust, wollte sich befreien und seine wahre Gestalt annehmen. »Nicht jetzt«, murmelte er. »Noch nicht, bitte noch nicht.«

Wie schafften es Lillian und die anderen nur die Kontrolle zu behalten? Wie konnten sie die Bestie zähmen, die in ihrem Herzen wohnte? Es war so schwer, schien so unmöglich. Doch er hatte keine Wahl. Aufgeben hieß Ishiro aufzugeben und er könnte es nie verkraften ihn zu verlieren, selbst wenn er ihn vermutlich nie wieder sehen konnte. Wenn sein Freund der Polizei berichtete, was ihm geschehen war, würde man ihn jagen, ihn und Lillian ebenfalls. Sie würden es herausfinden, dann wäre das Geheimnis verraten. Vielleicht sollte er ihn doch fortbringen, vielleicht wäre es besser ... Nein! Er biss die Zähne so fest zusammen, dass er Blut schmeckte. Das da war sein bester Freund, die Person, die einer Familie am nächsten kam. Ishiro war alles, was er auf der Welt hatte, seit sie ihn verlassen hatte.

Lillian.

Der Name gab ihm Kraft, zog ihn auf die Beine und stützte seine Arme, als er Ishiro aus dem Wagen hob. Noch immer quoll leuchtend rotes Blut aus den grausamen Rissen, so viel ... zu viel! Er wankte vorwärts, nutzte die Kraft des Wolfes, um Ishiro ruhig zu halten. Niemand war hier, kein Pfleger, einfach niemand. Und doch hörte er Stimmen, als würde das Gebäude selbst mit ihm reden. Geistesgegenwärtig zog er seine Kapuze über den Kopf. »Hilfe!«, brüllte er. »Helft uns, bitte!«

Ein Pulsschlag beschleunigte sich, Schritte stockten. Jemand hatte ihn gehört.

Hastig ließ er Ishiro auf den Boden gleiten und umklammerte seine Hand ein letztes Mal. »Es tut mir leid, Bruder«, flüsterte er. »Ich wollte das nicht, das musst du mir glauben! Ich habe es nicht gewollt! Bitte stirb nicht, ich flehe dich an! Und bitte sag es ihnen nicht, nicht mir zuliebe, sondern für sie. Ich habe das doch alles nur für sie getan. Ich liebe sie, Ishiro. Ich liebe sie wirklich.« Silberne Tränen quollen aus seinen Augenwinkeln und fielen auf das Gesicht des Freundes, wo sie zwischen dem Blut verloren gingen. »Bitte vergib mir.« Er drückte die Finger des Verletzten, während die Schritte näher kamen. Ein erschrockenes Keuchen sagte ihm, dass sie entdeckt worden waren. Er sprang auf und rannte davon. Jenseits der Parkplätze in der großen Grünanlage riss der Wolf ihn zu Boden und übernahm die Kontrolle. Sein Geheul stieg in den bewölkten Himmel auf und die ersten Tropfen fielen von einem trauernden Himmel.

Tracy - Zwischen Liebe, Hoffnung und ErinnerungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt