Tag 53 // Tag 52

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Tag 53

Es war Mittwoch und ich saß wieder auf der Couch von Dr. Della Bryson. Sie hatte ihr Klemmbrett in der Hand und sah mich an.

»Was ist die letzte Woche so passiert? Irgendwelche interessanten Ereignisse?«, fragte meine Therapeutin. Ich zuckte die Schultern.

»Es war wie immer irgendwie, aber auch ganz anders.«

»Wie meinst du das?«, fragte die Ärztin nach. Ich seufzte.

»Ich gehe in die Schule und sehe meine Freunde. Das ist gleich. Das ist schön. Aber es gibt auch Tage, an denen mich eine Traurigkeit überkommt.«

»Weswegen bist du traurig?«

»Ich bin traurig, weil ich ein kurzes Leben hatte. Und weil ich zu schnell lebe. Weil ich jetzt endlich richtige Freunde gefunden habe. Und sie schon wieder verlassen muss. Ich bin traurig, weil ich sterben werde.«

»Und das nimmt dir keiner übel, Jo«, sagte sie mitfühlend »Kommst du gut mit deinem Buch voran?«

»Es ist kein Buch«, sagte ich. »Es sind einfach Texte. Erzählungen von meinen Tagen.«

»Und was willst du mit diesen Erzählungen erreichen?«, fragte meine Therapeutin und schrieb etwas auf ihr Klemmbrett.

»Ich will den Leuten etwas zeigen. Ich will ihnen zeigen, wie schön das Leben sein kann und wie kostbar es ist. Und dass sie froh sein können, ihres noch vor sich zu haben.« Dr. Bryson lächelte.

»Ich denke, du wirst diese Aufgabe meistern. Du hast für dein junges Alter sehr viel vom Leben verstanden.« Meine Therapeutin lächelte mich so aufrichtig und herzlich an - was sie sonst nie wirklich tat - dass ich völlig überfordert war.

Also blinzelte ich und sagte das Erste, was mir einfiel: »In Katzenjahren bin ich immerhin schon 85.«

Vor der Praxis von Dr. Della Bryson stieg ich in mein ramponiertes Auto und fuhr los. Ich ließ die Fenster herunter, weil wir schon Mitte Mai hatten, und fuhr los. Dazu drehte ich das Radio auf, was nur CDs abspielte und sang lauthals mit. Auf dem Weg zur Schule kam ich durch eine Wohnsiedlung, die in meiner Stadt auf dem einzigen Berg gebaut war, den es gab. Als ich auf dem Berg angekommen war, blickte ich auf die kurvige Straße unter mir. Ich konnte nicht anders. Es war wie eine Sucht. Lächelnd nahm ich den Gang raus, löste die Bremse und bretterte die nie wirklich befahrene Straße hinab. Der Wind zerrte an meinen Haaren und ich grinste breit. Das war mein Gefühl von Freiheit.

Ich lächelte immer noch, als ich an der Schule parkte. Da die anderen Schüler noch einige Minuten Unterricht hatten, setzte ich mich auf dem Campus auf eine Bank und hielt mein Gesicht in die Sonne. Ich genoss die Wärme und ließ mich von ihr einlullen. Egal ob Bilder, Landschaften, Haare. Sonne machte alles schöner.

Ich wurde wach, als mich jemand unsanft an der Schulter rüttelte. Erschrocken schlug ich die Augen auf, nur um kurzerhand in Nathalies Visage zu blicken.

»Aufstehen, Jo!«, rief sie in Zeitlupe und ich runzelte die Stirn. Dann grinste sie und schlug mir auf die Schulter.

»Du bist eingenickt«, meinte sie und fläzte sich neben mich. »Hach, ist die Sonne schön. Kommst du heute Abend zu meiner Ist-eigentlich-keine-Party-aber-ich-nenne-sie-so-weil-es-cooler-klingt-Party?«

Ich lachte. »Was?«

»Na ja, wir sind ja nur eine Handvoll Leute und auch wenn wir bald in den Genuss der Privilegien der Abschlussschüler kommen dürfen - nämlich mega viel freie Zeit in der Prüfungsphase - haben wir morgen immerhin Schule. Also sollten wir wohl nicht übertreiben.«

The Bucket ListWo Geschichten leben. Entdecke jetzt