5. Domen - Oberstdorf - Tag der Qualifikation

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Unbeirrt zerrte Domen Peter weiter aus dem Wald zurück ins Springerlager. Bloß so schnell wie möglich weg von Daniel, dass der nicht mitbekam, was Peter schon wieder alles zu meckern hatte.

„Was hast du schon wieder gemacht? Du solltest dich doch vorbereiten und nicht, dich in Luft auflösen", warf Peter ihm sauer vor. Er hatte eigentlich besseres zu tun, als ständig seinem Bruder nachzulaufen.

„Ich habe mich vorbereitet! Ich war joggen, um mich warm zu halten", rechtfertigte Domen sich, was ihm zutiefst widerstrebte. Er verfolgte doch auch nicht jeden Schritt seines Bruders, mal unabhängig davon, dass er das auch gar nicht wollen würde. Ja, wahrscheinlich nicht einmal könnte, da er schon nach fünf Minuten vor todbringender Langeweile ins Wachkoma fallen würde.

„Das sah mir nicht nach joggen aus", bemerkte Peter spitz und verzog seine Lippen.

„Ich habe mir für einen kleinen Moment meines Lebens die Freiheit genommen, mich zu unterhalten. Wie schrecklich! Ich weiß. Ein Blitz möge mich treffen und strafen", stöhnte Domen theatralisch und versuchte mit aller Gewalt den Drang, sich irgendwo zu verkriechen und vor Daniel zu verstecken in den Griff zu bekommen. Er wurde nämlich das Gefühl nicht los, gerade von Peter beim Händchenhalten erwischt worden zu sein. Dabei war absolut nichts dabei gewesen! Sie hatten sich die Hand gegeben verdammt nochmal! Nur seine eigene Reaktion hatte da irgendwie eine andere Sprache gesprochen und er wollte gar nicht wissen, was Daniel jetzt über ihn dachte. Wie ein verschrecktes Huhn hatte er sich benommen, als Peter dazugekommen war. Seine Gegner sollten ihn als ebenbürtig wahrnehmen und nicht als kleines Kind, dem man gerade im Begriff war, den Lutscher wegzunehmen! Aber genau das vermittelte Peter durch sein Auftreten ihm gegenüber. Sein Bruder schaffte es tatsächlich mit seiner bloßen Anwesenheit, dass er sich unwohl fühlte und alles an seinem Verhalten begann zu hinterfragen. Dabei war doch gerade nichts dabei gewesen. Sie hatten sich unterhalten, ausnahmsweise einmal ohne sich gegenseitig zu triezen, naja zumindest hatten sie das für die letzten zwei Minuten geschafft.

„Du brauchst nicht gleich wieder ausfällig zu werden", sagte Peter in einem Tonfall, der Domen noch ein Stück weiter die Palme hinauf brachte.

„Ja, ich vergaß Peter der Allmächtige verträgt keine Kritik", winkte Domen gefrustet ab und lief einen Schritt schneller, in der Hoffnung Peters Wortklauen endlich zu entkommen.

„Das sagt ja genau der Richtige", entwischte es Peter leise. Nur leider nicht leise genug, denn Domen stoppte und drehte sich mit blitzenden Augen zu seinem älteren Bruder um. Wenn Blicke tatsächlich töten könnten, dann wäre von dem älteren Slowenen wohl nur vom leichten Wind verwehte Asche übriggeblieben.

„Was ist eigentlich dein Problem mit mir? Seit ich im Team bin, nörgelst du an mir rum und weißt alles besser! Und kannst es einfach nicht lassen, mich vor allen anderen bloßzustellen! Kannst du es nicht ertragen, dass dein kleiner Nichtsnutziger Bruder besser ist als du?", platzte es zum ersten Mal laut aus Domen heraus. Er hatte sich nie getraut, diese Gedanken auszusprechen, aber insgeheim nagten sie schon seit Wochen an ihm.

„Was?!", sprachlos starrte er den Jüngeren an.

„Ich trainiere genauso hart wie du, wenn nicht sogar härter!", begann Domen wütend aufzuzählen. „Ich hab die ganzen letzten Jahre nichts anderes getan, außer mich dem Sport zu widmen, weil ich genauso gut werden wollte wie du und jetzt, wo ich Erfolg habe, kann ich einfach nichts-"

„Ich will dir doch nur helfen!"

„Ach ja? Vielleicht schlägst du die Bedeutung des Wortes noch mal nach, da muss nämlich was gewaltig schiefgelaufen sein!", trotzig verschränkte Domen die Arme vor seinem Körper. Er tat absolut nichts, was an seinem sportlichen Ehrgeiz zweifeln ließ. Im Gegenteil den Großteil seiner Jugend hatte er dem Sport gewidmet! Während andere in seinem Alter Partys feierten und sich mit Mädels vergnügten, hatte er seine Zeit in den Trainingsräumen oder an der Schanze verbracht. Und nie hatte er sich von seinem Ziel abbringen lassen. Er hatte sich das alles hart erarbeitet! Und zwar allein! Und jetzt kam Peter bei jeder sich bietenden Gelegenheit daher und sorgte dafür, dass er sich nur Unwohl fühlte, wenn er sich unterhielt ohne auch nur an den Sport zu denken!

„Weißt du was? Ich habe es so satt, ständig von dir angemault zu werden", genervt warf Peter die Arme in die Luft. Er verstand seinen Bruder einfach nicht. Er wäre bei seinem Einstand im Team froh gewesen, wenn ihm jemand gesagt hätte, wo es langging.

„Dann sind wir uns ja wenigstens in einem Punkt einig", stellte Domen bissig fest und ging blind für seine Außenwelt weiter, sodass er beinahe Thiessen umgerannt hätte, der auf dem Weg zu ihnen gewesen war.

„Nicht so stürmisch, junger Mann", lachte er Domen entgegen und war sichtlich begeistert, sie gemeinsam zu erwischen. Schon von weitem hatte er gesehen, dass die beiden Brüder heftig miteinander diskutierten und witterte insgeheim schon seine nächste große Story.

„Peter, schön dich zu sehen! Gibst du deinem kleinen Bruder noch ein paar Tipps mit auf dem Weg?", wollte er wissen und beobachtete jede ihrer Reaktionen mit Argusaugen. Neugierig sahen auch ein paar der VIP-Gäste zu ihnen herüber, die durch Thiessens laute Stimme auf sie aufmerksam geworden waren.

Domen seufzte. Wie er dieses falsche Gehabe hasste! Wie gern würde er seinen Bruder jetzt einfach stehen lassen! Nur würde es dann wieder unnötige Gerüchte geben, die weder Goran noch der Verband gutheißen würde. Immerhin hingen an ihrem Image auch Sponsorenverträge, die Wert auf ein tadelloses Auftreten legten. Aber ganz kampflos würde er sich auch nicht geschlagen geben. Nicht diesmal. „Genaugenommen, Mr. Thiessen, sprachen wir gerade über Peters Sprünge. Ich versuche ihm bei ein paar Kleinigkeiten zu helfen", kam er der Antwort seines Bruders zuvor, grinste ihn an und legte brüderlich den Arm um Peter. Er sah deutlich wie dessen Augen sich verengten und seine Kiefer begannen zu malmen, als dieser ihn von der Seite ansah.

„Zumindest diskutieren wir über ein paar Sachen", gab Peter widerstrebend nach. Er wusste, er musste jetzt gute Miene zum bösen Spiel machen.

„Ich sehe schon: Die Familie Prevc hält zusammen und unterstützt sich gegenseitig", grinste Thiessen ihnen entgegen, ohne dass sein Lächeln seine eisgrauen Augen erreichte, die sie wachsam musterten. Unauffällig traten die ersten Schaulustigen näher an sie heran und verfolgten aufmerksam jedes ihrer Worte.

„Worauf sie sich verlassen können, schließlich schätzt doch jeder eine helfende Hand", bekräftigte Peter, betonte besonders den letzten Teil seines Satzes und sah Domen direkt in die Augen mit seinem Grinsen, dass er speziell für solche Anlässe reserviert hatte.

„Das stimmt, besonders wenn es gerade mal nicht so läuft", nickte nun auch Domen eifrig und ließ Peter nicht von der Angel, dessen Gesichtszüge sich kaum merklich wieder verhärteten. Diese Runde ging definitiv an ihn.

„Dann will ich mal nicht weiter stören. Ihr müsst ja wahrscheinlich auch gleich los", verabschiedete sich Thiessen, ließ die beiden stehen und rannte dem nächsten Springer hinterher. Dabei schwor er sich, die Prevc-Brüder im Auge zu behalten. Er war sich sicher, dass sich hier demnächst eine Story von größerer Bedeutung anbahnen könnte, allerdings würden sie ihm nichts erzählen, wenn er sie zu sehr bedrängen würde. Das hatte ihm seine jahrelange Erfahrung gelehrt.

„Dämlicher-"

„Domen!", hielt Peter seinen Bruder mit einem warnenden Blick auf seine Umgebung auf, dass auszusprechen, was er gerade dachte. Sie waren wieder im Springerlager und hier hatten die Wände sprichwörtlich Ohren. Zudem traute sich nun doch eine Gruppe Besucher sich weiter zu nähern.

„Die Prevc-Brüder, nein das ist uns aber eine Freude!", rief eine ältere Dame im knallrosa Schneemantel verzückt und man sah ihr an, dass sie ihnen am liebsten in die Wangen gekniffen hätte, wie ihre Oma das immer tat.

„Letzte Vorbereitungen auf den Sprung? Hast du deinem Bruder auch gut zugehört? Immerhin weiß er, wie es geht", sagte der Mann, der direkt neben der rosa Schneefrau stand und klopfte Domen gönnerhaft auf die Schulter, als wäre er ihr Vater.

Die anderen, die um das Brüderpaar herumstanden, beäugten sie neugierig, hatten aber nicht den Mut sie anzusprechen. Domen kam sich wie ein exotisches Tier im Zoo vor, dass genauestens begutachtet wurde. Fehlte nur noch die Banane, um sie ein wenig näher zu sich heran zu locken.

„Wo ist denn euer anderer Bruder? Ein Foto mit euch dreien, das wäre doch etwas, oder Manfred?", flehend sahen ihre Augen sie an und die beiden Geschwister wussten, dass sie aus der Nummer wahrscheinlich nicht herauskamen.

„Nun, Cene ist schon oben und gleich dran und wir haben leider auch nicht mehr viel Zeit", versuchte Peter höflich die beiden abzuweisen und machte einige Schritte nach vorn.

„Aber sicher doch. Trotzdem vielleicht ein Foto mit euch beiden? Geht auch ganz schnell", ließ sie sich jedoch nicht so leicht abwimmeln und ihre glänzenden Augen machten es schwer, ihrer Bitte nicht nachzukommen. Zumal sich immer mehr Menschen um sie versammelten, die sie abwartend beobachteten und ebenfalls die Handys zückten.

„Okay, ein kurzes Foto", gab Peter schließlich nach und stellte sich mit falschem Fotolächeln neben Domen, der stocksteif dastand und den maximalen Sicherheitsabstand wahrte.

„Das muss so schön sein, als Geschwister gemeinsam unterwegs zu sein", säuselte eine andere Frau um die dreißig, die begeistert mit ihrem Smartphone ein Foto nach dem anderen schoss.

„Sie haben ja keine Ahnung", brummte Domen und bekam warnend Peters Ellenbogen in die Seite. Danach gaben sie noch ein paar Autogramme, jeder an einer anderen Ecke der kleinen Menschentraube, bevor sie sich gemeinsam von ihren Fans verabschiedeten.

Schweigend stiefelten sie in einem Sicherheitsabstand von vier Metern zueinander zum Container der Slowenen. „Musste das jetzt unbedingt sein?", fragte Peter, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte.

„Ich weiß nicht, was du meinst", blockte der jüngere ab und begann, seine Sachen zusammenzusuchen.

„Du weißt genau, was ich meine. Thiessen ist ein Hai, der zerreißt jeden, der ihm einen Anhaltspunkt liefert. Und ich bin mir sicher, der hat schon Fährte aufgenommen", hielt Peter ihm vor, als ob er das nicht selbst wissen würde.

„Wirklich?! Na dann ist ja gut, dass ich ihm nichts von meiner letzten Sitzung der Anonymen-frustrierten jüngeren Geschwister erzählt habe", antwortete er ihm ruhig und knallte seinen Rucksack auf den Tisch, um seine Ausrüstung rauszuholen.

„Weißt du was? Mir reicht es! Von mir bekommst du keine Hilfe mehr!", fuhr Peter ihn mit den Nerven am Ende an, während er sich in seinen Sprunganzug und die Schuhe zwängte.

„Ich hab dich auch nie drum gebeten", erinnerte Domen seinen Bruder, während er begann, am Reißverschluss seines Rucksackes zu zerren. Irgendetwas hatte sich da verhakt und er ging einfach nicht auf.

„Aber Goran-" –

„Dann sag ihm mit deiner sonst so prächtig funktionierenden Stimme, dass du keinen Bock mehr auf den Babysitterjob hast! So schwer kann das ja wohl nicht sein!", brummte Domen ohne seinen Bruder eines Blickes zu würdigen. Er hatte jetzt andere Probleme. Er stellte den Rucksack, der sich weigerte nachzugeben, auf den Boden, trat mit seinem Fuß auf den Rand und zerrte mit aller Kraft am Reißverschluss.

Dieses Scheißteil! Aus was für einem Material war der bitte?! Stahl!?

„Was machst du da? Dir ist klar, dass es Ärger gibt, wenn du schon wieder-"

„Peter, jetzt kümmere dich doch einfach mal um deinen Scheiß! Deine Sprünge sind schließlich auch nicht mehr die, die sie mal waren, da gibt es doch bestimmt genügend für dich zu tun", fuhr er ihm zum wiederholten Male dazwischen und holte zum letzten Schlag gegen seinen Bruder aus, der sichtlich erstarrte. Wortlos zog der Ältere sich die Jacke über und verschwand. Natürlich ganz ohne das zu erwartende Türknallen. Nicht mal das, brachte der perfekte Peter fertig, wenn er wütend war, dachte Domen frustriert.

„Arrrrrghhhh!", schrie er in den stillen Raum hinein und zog noch einmal mit einem kräftigen Ruck, der natürlich nichts brachte, außer dem Gefühl sich die Fingerspitzen abgeschnürt zu haben. Seine Handschuhe hatten sich hoffnungslos verklemmt und er tat besser daran, sie nicht einfach rauszuzerren. Er glaubte nämlich nicht, dass diese besonders reißfest waren. Suchend sah er sich um, bis er die Schere fand. Er war fertig mit den Nerven und wollte jetzt nur noch an seine Sachen kommen. Der Rest war ihm egal.

Wie ein Wahnsinniger fing er an, seinen Rucksack mit der Schere, die eigentlich sonst für ihre Anzüge gedacht war, zu bearbeiten und den Reißverschluss auszuschneiden. Dummerweise schien auch der Stoff aus Beton zu bestehen, sodass es weniger einem Schneiden, als vielmehr einer Scherenstecherei ähnelte. Domen ließ all seine Wut an seinem Rucksack aus. Es wurmte ihn, dass Peter es ständig fertigbrachte, ihn zu blamieren! Als ob die anderen Springer nicht schon genügend mitbekommen hatten! Sicher, für sie war es lustig, aber ihm ging das sehr eindeutig gegen den Strich. So nahm ihn doch niemand ernst! Wieder kam Daniel ihm in den Sinn, der ihn schon jetzt ständig aufzog und er spürte erneut dieses komische Gefühl an ihm nagen, dass er nur Peter zu verdanken hatte. Sie hatten nichts Verbotenes im Wald getan! Auch er durfte sich mal unterhalten, ohne nebenbei Trainingseinheiten zu absolvieren.

„Das war einfach der Wahnsinn! Ich meine, habt ihr-", öffnete sich die Tür und sein Bruder Cene betrat, dicht gefolgt von Jernej und Anze, gut gelaunt den Raum. Als er Domen sah, der wie ein wahnsinniger auf seinen Rucksack einstach, stoppte er und die anderen stolperten in ihn hinein. „-das gesehen?", beendete er seinen Satz, etwas aus der Fassung gebracht.

„Wieso tötest du deinen Rucksack?", skeptisch analysierte Jernej die Szene vor ihm.

„Gewalt ist keine Lösung, darüber haben wir ja mal gesprochen...", leistete auch Anze seinen Beitrag und legte dabei seinen besorgten Tonfall an den Tag, der ihn wie einen aufdringlichen Psychologen klingen ließ.

„Alles okay?", wollte Cene wissen, der seinen jüngeren Bruder recht gut kannte und so eine Ahnung hatte, wer ihn in diese Stimmung versetzt haben könnte. Er hoffte nur, dass Peter nicht irgendwo im Wald vergraben lag.

„Alles bestens. Was sollte schon nicht stimmen?!", fragte er, gerade als es ihm endlich gelang seinen Handschuh vorsichtig mit der Schere aus dem Reißverschluss zu hebeln.
Triumphierend hielt er ihn in die Höhe und stieß ein lautes „Ha!" aus und schmiss den Stofffetzen, der früher einmal ein Teil seines Rucksacks gewesen war, in den Müll, bevor er überhaupt realisierte, dass vom Rest nicht mehr viel übrig war.

„Ja, wie komm ich nur drauf? Du werkelst ja auch nur wie ein Irrer mit ner echt scharfen Schere rum und stichst deinen Rucksack ab... hast Recht. Wahrscheinlich ist alles okay", erwiderte Cene, als wäre es das normalste der Welt.

„Hör mal, ich hab dafür gerade keine Zeit. Auch auf mich wird nicht gewartet", verabschiedete er sich, klemmte sich seine Rucksackleiche in aller Eile unter den Arm, damit nichts herausfiel und rauschte aus dem Quartier der Slowenen, natürlich nicht ohne die Tür hinter sich laut zukrachen zu lassen. Er war ja nicht Peter.

Tief zog er sich seine Kapuze ins Gesicht, setzte seinen Helm und seine Brille auf, um sich von seiner Umgebung ein wenig abschotten zu können. Er durfte sich jetzt von nichts ablenken lassen. Sein Sprung war alles, was jetzt noch von Bedeutung war. Er musste diese innere Unruhe, die ihn im Griff hatte, all seine Wut, wegsperren und sich fokussieren.

Er sollte sich jetzt auch wirklich beeilen. Heute war er selbst für seine Verhältnisse spät dran.
Domen stieg in den Aufzug, der ihn langsam nach oben brachte. Ungeduldig pochte er mit den Fingern gegen die Wand. Nach einer Unendlichkeit stoppte der Aufzug und der Slowene ging sehr schnellen Schrittes in den Aufenthaltsraum. Dort war schon nicht einmal mehr Daniel zu sehen, der direkt vor ihm springen würde.

Schleunigst streifte er sich seine Jacke ab, band sich die Schuhe zu, überprüfte ein letztes Mal seinen Anzug, bevor er sich seine Skier schnappte und nach draußen lief.

Domen reihte sich hinter Daniel ein, der sein Ankommen nicht einmal zu registrieren schien. Konzentriert hatte er sein Gesicht nach unten gerichtet, die Augen hinter seiner Brille verborgen. Ein letztes Mal klopfte der Norweger sich auf die Oberschenkel, bevor er auf den Balken rutschte.

Domen nutzte die Zeit, die er am Balken warten musste, um sich gedanklich ganz auf seinen Sprung zu fokussieren. Er musste jetzt einfach alles ausblenden und zur Ruhe kommen, was ihm gerade wirklich nicht leicht fiel.

Reflexartig kniff er die Augen hinter seiner Brille zusammen, als er auf den Startbalken rutschte. Er sah zu Goran, der ihm das Zeichen geben würde. Endlich durfte er wieder in die Luft. Konnte alles um ihn herum vergessen. Dort herrschte die Stille, keiner, der ihm sagte, was er wie und warum zu tun hatte. Dort hatte er die Kontrolle.

Der slowenische Trainer senkte die Flagge und Domen ließ los. Er spürte, wie er Geschwindigkeit aufnahm, seinen Körper, der dem Druck standhielt. Mit all seiner angestauten Energie katapultierte er sich vom Schanzentisch und spürte, wie der Wind an ihm zerrte. Es fühlte sich anders an, als sonst. Er musste mehr arbeiten. Nicht, dass er genau sagen konnte, was dieses anders war, aber schon kurz nachdem er zur Landung ansetzte, wusste er, dass er heute den Kürzeren gezogen hatte.

Er bemühte sich darum, keine Miene zu verziehen und wartete im Auslauf auf seine Wertung. Er würde niemandem den Gefallen tun und sich jetzt enttäuscht zeigen.
Nur der 8. Platz, sagte die Anzeigetafel. Er zuckte demonstrativ mit den Schultern und winkte in die Kamera.

Auf der Bank neben der Leadersbox ließ er seine Skier stehen und eilte zum Monitor, um sich einen Überblick zu verschaffen. Schon nach den ersten Sekunden war ihm klar, dass auch der Wind keinen nennenswerten Einfluss gehabt hatte. Aber wieso-?

„Gar nicht schlecht", klopfte ihm Stefan Kraft auf die Schulter, als er sich neben ihn stellte und ebenfalls begann, die Ergebnisliste zu studieren.

„Danke", antwortete er kurz und wurde das Gefühl nicht los, dass seine Stimme irgendwie buttrig klang. Schnell wandte er sich ab und begann, sich aus seinem Anzug zu schälen, währenddessen konnte er die neugierigen Augen der Kameras spüren, die auf ihn gerichtet waren und jede seiner Reaktionen einfingen.

„Morgen geht's schon wieder besser", lief Andreas Kofler an ihm vorbei, der diesen mitleidig aufmunternden Blick für ihn hatte, den er jetzt gar nicht gebrauchen konnte.

„Klar, wieso auch nicht", rief er dem Österreicher hinterher und klang dabei wesentlich selbstsicherer, als er sich fühlte. Er musste unbedingt zu Goran und fragen, was da schiefgelaufen war. Wenn ihm das Morgen wieder passieren würde...

Tief in seinen Gedanken versunken, nahm er zuerst gar nicht wahr, dass Daniel sich neben ihn gesetzt hatte, den Siegerscheck an die Bank gelehnt.

„Glückwunsch", drehte er sich nach einem Moment zum Norweger um, der ihn einfach nur anstarrte, als wüsste er nicht, was er vor lauter Mitgefühl sagen sollte.

„Danke", brachte Daniel mit Mühe unsicher über die Lippen und war angesichts der normalen Reaktion des Slowenen etwas überrascht. Es hatte ihn viel Überwindung gekostet, sich neben ihn zu setzten, in aller Öffentlichkeit. Dann hatte er jedoch gedacht, dass es vielleicht die beste Strategie war, einfach mal abzuwarten, wie der junge Prevc auf seine Nähe reagieren würde. Immerhin traute er es dem Slowenen nicht zu, eine Szene mitten in all den Kameraaugen zu veranstalten, doch zumindest hatte er auf eine aufschlussreiche Reaktion gehofft, die er so mehr oder weniger bekommen hatte. „Dein Sprung war...ähm-", suchte Daniel nach den passenden Worten, froh, dass sich das Gespräch auf vermeintlich sicherem Terrain bewegte.

„Durchschnittlich, ist glaube ich das Wort, dass du suchst", half Domen ihm ohne Umschweife und stopfte seine Keile in seinen Stofffetzen, der inzwischen von einem der Betreuer wieder heruntergebracht worden war. Der Norweger war genau wie alle anderen. Er benahm sich wegen seines Sprungs, als würde er auf einer Eierschalenhaut laufen, die jeder Zeit einbrechen konnte.

„Hör mal, ähm...", unsicher sah Daniel den Jüngeren an. Wie zum Teufel sollte er herausbekommen, was er wusste, ohne sich selbst zu verraten? Er wollte doch nur ganz sichergehen, sonst würde er heute Nacht kein Auge zu tun.

„Schon klar. Morgen sieht die Welt wieder ganz anders aus, blablabla. Spar es dir einfach, das habe ich gerade alles schon gehört. Jetzt darf ich aufpassen, dass ich auf dem ganzen Mitleidsschleim, der überall liegt, nicht auch noch ausrutsche", grummelte er leise, während er sich seine normalen Schuhe überzog. „Und dann auch noch Peter mit seinen ständigen Unterstellungen!"

„Unterstellungen?! Peter würde doch nie- ähm... Ich meine, was-", stotterte Daniel, dem bei Domens Aussage ganz anders geworden war.

„Natürlich! Der perfekte Peter doch nicht!", frustriert versuchte er seine Schuhe in seine Tasche zu stopfen, was ohne den Reißverschluss, dafür mit großem klaffendem Loch gar nicht so einfach war. „Vergiss es einfach!", ließ Domen Daniel einfach sitzen, warf sich achtlos seine Rucksackleiche über den Rücken und lief zurück ins Springerlager an den Massen vorbei.

Die Fans, die nach ihm riefen ignorierte er. Normalerweise genoss er das Bad in der Menge und die ganze Aufmerksamkeit, heute wollte er davon jedoch nichts wissen. Er musste jetzt erst einmal herausfinden, was bei seinem Sprung schiefgelaufen war.

Als er die Containertür aufstieß, empfing ihn buntes Gewusel. Seine Teamkollegen waren dabei, alle ihre Sachen zusammenzupacken. Niemand schien ihn groß zu beachten. Er schmiss seinen Rucksack achtlos in die Ecke und setzte sich neben Jurij, der seine Tasche packte.

„Wo ist Goran?", wollte der jüngere Wissen.

„Packt zusammen. Besprechung ist heute im Hotel. Wir sollen uns ein bisschen beeilen, dass wir dann nicht im Stau stecken", informierte Jurij ihn knapp.

Domen zog sich seinen Sprunganzug aus und seine Jogginghose an, während der Container sich langsam leerte. Bis nur noch er übriggeblieben war. Er steckte sein Handy in die Jackentasche und warf einen letzten kontrollierenden Blick in seinen Rucksack. Er hatte seine Keile, die Brille, den Schuh, den Helm, seine Handschuhe.

...

Moment. DER Schuh?!? Abermals durchwühlte er seinen Rucksack. Ja, der Singular war schon richtig gewesen. Shit! Wo zum Henker war der andere?! „Nein, nein, nein! Scheiße!"

„Domen! Kommst du jetzt endlich? Es warten alle nur auf dich!", öffnete Anze die Tür.

„Äh...gleich ich muss-", fahrig sah Domen sich um. Wo konnte der nur abgeblieben sein? Die Sachen der anderen waren alle schon weg, sodass es eigentlich ein Leichtes sein müsste, den zu finden. So viele Winkel gab es in diesem Raum ja nicht.

„Nicht gleich. Goran will die Auswertung noch vor dem Essen machen", stöhnte sein Gegenüber genervt. Er hatte keine Lust, schon wieder die schlechte Laune seines Trainers abzubekommen, nur, weil sein Zimmerkollege mal wieder nicht in die Hufen kam.

„Dann sag ihm, ich fahr mit den Technikern", zischte er, während er einen Blick unter die Bänke warf. Nichts. Aber er hatte seinen Rucksack doch nirgends anders gehabt?! Und eben war er ja noch gesprungen. Fahrig drehte er sich im Kreis.

„Wenn du meinst", brummte Anze und ließ Domen allein in seiner Panik zurück.
Er hatte zwar Ersatzschuhe, aber er bezweifelte, dass Goran angesichts dieser Nachricht beruhigt wäre. Immerhin war der Materialbereich hart umkämpft, und die Sprungstiefel waren da nicht ausgeschlossen. Manuel Fettner machte um seine beispielsweise ein ziemliches Geheimnis. Zudem musste er Goran auch noch um einen neuen Rucksack-

Scheiße! Der Rucksack! Er musste ihn unterwegs irgendwo verloren haben! Schnell sprintete er nach draußen und sah sich suchend um, nachdem er schnell den Technikern Bescheid gegeben hatte, dass sie ihn mitnehmen mussten. Er sah sich sonst heute noch zum Hotel laufen. Danach lief er jeden verdammten Quadratmeter ab, den er entlanggegangen war. Aber nirgends sah er seinen weiß-roten Sprungschuh und so langsam verfiel er in blanke Panik.

„Hey! Butterprinzessin!", wurde er von weitem gerufen.

„Nenn mich nicht so!", zischte Domen abwesend und röntgte weiter jeden Millimeter des Weges vor ihm. Goran würde ihn umbringen, wenn er seinen Schuh nicht fand. Das ganze Lager wirkte wie leergefegt. Vereinzelt sah man noch Techniker umherrennen, die letzten Fernsehkameras wurden verstaut und aus der Richtung der norwegischen und deutschen Mannschaftsräume drangen noch vereinzelt Stimmen zu ihnen herüber.

„Verzeiht mir, oh holde Schönheit, aber mich dünkt, ihr habt bei eurer Flucht etwas verloren", witzelte Daniel schwach, dem die Ironie des Ganzen nicht entging und wedelte mit Domens Sprungschuh durch die Luft.

Verwirrt blickte Domen auf und sah, was der Norweger in der Hand hielt. Erleichtert lief er auf ihn zu und kam außer Atem vor ihm zum Stehen. In der Erwartung, dass Daniel ihm seinen Schuh reichen würde, stand er vor ihm, aber nichts passierte. Daniel starrte ihn einfach nur an.

„Was? Soll ich dich jetzt küssen oder bekomm ich den auch so zurück?", durchbrach er die Stille und wandte seinen Blick vom Norweger ab, der ihm unangenehm nah ging. Als würde er etwas anstoßen.

Für einen kurzen schmerzhaften Moment brachte er Daniel mit seiner Frage aus der Fassung. „Ach, Butterprinzessin, ein einfaches 'Danke' würde mir schon reichen", sagte dieser mit belegter Stimme und bemühte sich um ein schiefes Grinsen.

Domen, der sich unwohl in dieser Position fühlte, konnte einfach nicht glauben, dass Daniel ihn schon wieder auf dem falschen Fuß erwischte. Er hätte heute Morgen definitiv im Bett bleiben sollen.

„Dann, Danke, Lahmarsch. Man sieht sich!", schnappte er sich seinen Schuh aus Daniels Hand und ließ ihn ohne ein weiteres Wort stehen.

Sehnsüchtig sah Daniel dem Jüngeren hinterher, der um die Ecke eilte, als wäre der Teufel höchst persönlich hinter ihm her. Dann besann er sich wieder und lief seinerseits zurück zur norwegischen Unterbringung.

Beiden entging, der Beobachter, der das Geschehen zwischen ihnen aus der Ferne im Schutz der Finsternis verfolgt hatte und sich, mit seiner neuen Erkenntnis, leise zwischen den Containern im Springerlager wieder zurückzog.

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