Tag 45 // Tag 44

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Tag 45

Heute war unser letzter regulärer Schultag. Es war zwar erst Donnerstag, aber da morgen das Endspiel im Fußball anstand und unser Schulteam seit Jahrzehnten endlich mal wieder im Finale war, fühlte es sich so an. Direktor White war so euphorisch, dass wir morgen nur bis Mittag Schule hatten, um uns in aller Ruhe auf das Spiel vorzubereiten. Was im Wesentlichen darin bestand, sich ein blaues Shirt überzuziehen und sich vom Rausch der Zugehörigkeit mitziehen zu lassen.

»Guten Morgen, Schatz!«, begrüßte mich Dad und küsste mich auf den Kopf. Ich lächelte, drückte ihn und nahm am Tisch Platz.

»Heute ist dein letzter Tag, nicht wahr?«, fragte Mum, obwohl sie es ganz genau wusste.

»Ja sozusagen«, meinte ich.

»Und, aufgeregt?«, fragte sie weiter. Ich verdrehte genervt die Augen.

»Es ist ein ganz normaler Tag, wie jeder andere auch.« Ich trank mein Wasser, aß ein paar Bissen und hing meinen Gedanken nach. Mum summte ein Lied aus dem Radio mit und Dad las seine Zeitung.

Früher hatte ich mich nach diesem Tag gesehnt. An dem Tag, an dem ich den Unterricht endlich hinter mir hatte, weil dann die Prüfungszeit begann. Bianca, Zoey und ich hatten für die Woche nach dem letzten Tag einen Kurztrip nach Nizza geplant, um ein wenig zu entspannen, bevor der Prüfungsstress vor der Tür stand. Aber wir hatten ihn nie gebucht.

Jetzt war mir der letzte Schultag egal, denn er war unbedeutend geworden.

Ich stieg aus dem Auto und lief den Weg zur Schule. Dabei begegnete ich Kyle, der gerade aus seinem Schlitten stieg. Schnell sah ich weg und beschleunigte meine Schritte. Aber es war zu spät.

»Hey grumpy cat!«, rief er nach mir. Ich kniff kurz die Augen zusammen, ehe ich mich zu ihm umdrehte.

»Hi«, murmelte ich. »Gibt's was?« Kyle runzelte irritiert die Stirn, ich konnte es ihm nicht verdenken.

»Alles okay bei dir?«, fragte er ernst. Ich nickte.

»Alles gut. Du, ich muss los, wir sehen uns später, ja?« Ohne seine Antwort abzuwarten, marschierte ich los. Ich war ein Feigling, der sich nicht mit seinen Gefühlen auseinandersetzen wollte. Ein Angsthase, der einem wichtigen Menschen nicht weh tun wollte. Ich redete mir ein, die anderen zu schützen, wäre edel. In Wahrheit wusste ich, dass es eine Ausrede war. Aber so war das eben. Selbst wenn man seine Ängste kannte, hieß das nicht, dass man dafür bereit war, sich ihnen zu stellen.

Im Mathezimmer nahm ich in der letzten Reihe Platz. Ich packte ein Buch aus und steckte mir heimlich einen Kopfhörer in mein linkes Ohr. Man sollte auch am letzten Tag nicht mit den Traditionen brechen.

Nach der Schulstunde fing mich Mrs Dickinson auf dem Flur ab.

»Jo, gut, dass ich dich noch finde. Ich brauche von dir noch ein paar Arbeiten wie deine letzten Worte und das Profil von Kyle.« Verständnislos sah ich sie an.

»Mrs Dickinson, bei allem Respekt, aber es ist unnötig, mich weiter zu bewerten. Ich glaube kaum, dass mir ein Abschluss noch was nützt, wenn ich ihn denn überhaupt noch erlebe.« Ich merkte, wie meiner Lehrerin kurz das Gesicht entgleiste. Der Tod war immer ein heikles Thema. Kurz glaubte ich, aus dem Schneider zu sein, aber Mrs D. stemmte die Hände in die Hüften und funkelte mich an.

»Ich weiß, dass du eine schlimme Krankheit hast und Gott bewahre, das wünsche ich keinem. Aber du bist immer noch Schülerin an dieser Schule, meine Liebe. Noch bist du nicht tot, du kannst immer noch dein Gehirn und deine Hände benutzen und ich werde dich weiterhin wie jeden anderen auch behandeln. Ich erwarte deine Texte.« Sie sah mich noch einmal streng an, bevor sie von dannen zog.

The Bucket ListWo Geschichten leben. Entdecke jetzt