Tag 37 // Tag 36

12.9K 970 116
                                    

Tag 37

Am folgenden Morgen stand ich mit meinem Rucksack vorn am Bürgersteig. Meine Eltern waren mit mir aufgestanden, hatten mir Essen gemacht. Mum sagte mir um die hundert Mal, dass ich auch ja meine Medikamente nehmen solle. Aber ich ließ auch das hundertunderste Mal über mich ergehen. Denn insgeheim wusste ich, dass sie Angst hatte, ich würde von diesem Ausflug nicht mehr wiederkommen.

Nathalie, die vorgefahren kam, riss mich aus meinen Gedanken. Sie hatte von ihrem Onkel einen alten Kombi bekommen, der seine besten Zeiten schon hinter sich hatte. Der hellblaue Lack wies Spuren vergangener Unfälle auf und hinten am Heck gab es eine Delle. Er war ausgedient. Er war perfekt.

»Steig ein, Jo. Das Abenteuer beginnt!«, rief Nathalie. Ich grinste. Meinen Rucksack schmiss ich in den Kofferraum und rutschte dann auf den Beifahrersitz. Nathalie gab Gas und wir fuhren unter den ersten Sonnenstrahlen durch die Stadt, die die Bühne des Dramas war, das sich mein Leben nannte.

Bei Logan hielten wir nur kurz an. Er stand mit Maya schon am Straßenrand und wartete auf uns. Beide grinsten uns zu. Logan war entgegen seiner sonst so ruhigen Art ganz zappelig und aufgeregt. Auch Mayas Augen leuchteten.

Auf dem Weg zu Kyle sangen wir laut mit. Logan hatte Maya im Arm, er lachte lauthals, als Nat anfing, auf dem Lenkrad zu trommeln und an der Ampel in ein Luftgitarrensolo überging. Als wir bei Kyle ankamen, stieg ich aus und lief den Weg zu der Haustür. Noch bevor ich die Tür erreichte, schwang sie auf und Kyle trat heraus. Er sah genervt aus, missmutig und schlecht gelaunt.

»Was ist los?«, fragte ich alarmiert. Kyle lachte hart auf. Das war der abweisende Kyle, der Junge mit der Nummer sieben. Der Frauenheld. Das war der Kyle vom Anfang.

»Mein Vater ist los«, sagte Kyle schroff. Dann trat Mr Thompson vor die Tür und sah zu uns beiden hinab.

»Du solltest für deine Prüfungen lernen. Jetzt magst du es noch nicht verstehen, aber wenn du den nötigen Abschluss hast, um sofort studieren zu können, wirst du froh sein, dass du deine Zeit sinnvoll genutzt hast.« Kyle schloss entnervt die Augen. Ich sah ihn mitfühlend an. Als er seine Augen wieder öffnete, sah ich eine Entschlossenheit in ihnen, die mir einerseits Mut machte, aber auch Angst einjagte.

»Glaub mir, ich werde meine Zeit sinnvoll nutzen«, erwiderte Kyle. Dann nahm er meine Hand und ging mit mir zum Auto, ohne noch einmal zurückzublicken. Wir stiegen ein und Nathalie fuhr zügig an. Ich sah im Seitenspiegel, wie Kyles Vater uns grimmig hinterherblickte. Ich war mir sicher, Kyle hatte ihm noch viel zu sagen, aber manchmal war es besser, zu schweigen.

Als wir auf dem Highway waren, wurde die Stimmung allmählich besser. Im Radio kamen bessere Lieder und wir redeten über Gott und die Welt. Mit jedem Kilometer, den wir zurücklegten, kamen wir einem Abenteuer entgegen, das wir alle bitternötig hatten.

»Nathalie, hast du inzwischen dein Kleid für den Abschlussball gefunden?«, fragte Kyle von der Rückbank. Nat grinste ihn durch den Rückspiegel an.

»Na logo!«, sagte sie. »Ich werde phantastisch aussehen!« Sie lachte ihr schallendes Lachen und pfiff die Melodie des Songs mit, der gerade aus dem Radio kam.

»Ich finde es immer noch total dämlich, wie du dich da rein steigerst«, meinte Logan, der neben Kyle in der Mitte des Autos saß. »Jeder will das schönste Kleid oder den besten Anzug. Alle rennen zum Friseur, machen sich Wochen vorher schon Gedanken, weil dieser Abend perfekt werden soll.« Alle waren still. Logan hatte unsere ungeteilte Aufmerksamkeit. Selbst Nathalie hielt die Klappe. »Dabei sind das Outfit und das Aussehen doch ganz egal. Dieser Abschlussball wird nicht legendär durch Äußerlichkeiten. Er wird legendär durch die Menschen, mit dem wir ihn verbringen.« Logan sah nach rechts zu Maya und verschränkte seine Hand mit ihrer. Sie lächelte.

The Bucket ListWo Geschichten leben. Entdecke jetzt