Incomplete

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Der Schnee wirbelte ihm entgegen, als Harry gegen Mitternacht nach Hause fuhr. Er war noch viel zu wach, um jetzt gleich ins Bett zu gehen und hatte es deswegen nicht eilig. Anton schlief sicherlich schon. Die Musik hatte er aufgedreht und hörte dem Refrain eines Songs zu, der ihm in den Ohren wummerte.

Das Lied erzählte davon, dass man den Kampf nicht aufgeben sollte und sich darüber im Klaren sein musste, dass man seine Liebsten nicht aufgeben durfte. Dass es nicht ums Überleben sondern ums Leben ging.

Nachdenklich fuhr Harry in die Auffahrt des Hauses und schaltete den Motor ab, stieg jedoch nicht aus.

Für wen würde er kämpfen?

Für wen würde er alles geben?

Harry umklammerte das Lenkrad und drückte seine Stirn gegen die Fingerknöchel. Liam hatte ihn verwirrt und das verwirrte ihn. Heute war zuviel passiert, als dass er es schnell genug verarbeiten und analysieren konnte. Sein Kopf schwirrte: Louis würde zurück nach Birmingham kommen, Harry hätte also die Möglichkeit ihn wieder zu sehen und Liam hatte sein Bedauern darüber ausgedrückt, dass Harry damals nicht mutig genug gewesen war, sich einzugestehen, dass er Louis gern hatte.

Aber damals war er so mit sich und seinem Job beschäftigt gewesen, dass er es einfach nicht ernsthaft in Betracht gezogen hatte, sich einen Partner zu suchen. Und das obwohl er sich jeden Morgen darauf gefreut hatte, dass Louis zu ihm ins Büro kam. Es war sein Highlight des Tages gewesen und als er endlich ein wenig Mut gefasst hatte, um sich anzunähern, war Louis nach Deutschland gegangen.

Und jetzt war da Anton.

Anton, der Louis ähnlich und doch ein ganz anderer Mensch war.

Anton, den er liebte, begehrte und der ihn glücklich machte.

Er machte ihn glücklich!

Aber wieso war er dann nervös, wenn er an den kommenden Kongress dachte? Man sollte meinen, dass man mit 37 Jahren alt genug war, um seine Gefühlswelt im Griff zu haben. Harry seufzte und sah durch die Frontscheibe, die vom Schnee immer mehr zugedeckt wurde. In ihrem Schlafzimmer war es schon dunkel. Anton lag sicherlich schon im Bett. Immerhin war er immer ziemlich ko, wenn er mit Malou beim Tanzen war. Er sollte hochgehen und sich zu ihm legen, ihn in den Arm nehmen und sich daran erfreuen, dass er ihn hatte. Louis war Vergangenheit und eine verspielte Chance. Er hatte sich zu einem erfolgreichen Arzt gemausert und war nun sicherlich in derselben Position wie Harry damals; nämlich, dass er keine Zeit für eine Familie hatte. Wenn er beim Kongress seinen Vortrag halten würde, würde Harry im Publikum sitzen und vielleicht danach kurz mit ihm sprechen. Doch mehr würde er nicht unternehmen. Jeder hatte sein eigenes Leben und das würde gewiss so bleiben.

Entschlossen, sich nicht weiter mit Louis auseinanderzusetzen, öffnete Harry die Autotür und bekam erstmal eine Ladung Schnee in den Nacken, der vom Wagendach herunterrutschte. Rasch versuchte er das kalte Zeug aus dem Mantel zu bekommen, doch es rutschte ihm unters Hemd und schmolz kalt an seinem Rücken. In der Wohnung zog Harry die Tür leise hinter sich zu und hängte Mantel und Schal auf, dann schlich er sich die Treppe hinauf ins Badezimmer. Ein wenig abwesend putzte er sich die Zähne und sprang dann noch schnell unter die Dusche. Das warme Wasser tat seinem Knie gut und er hockte sich hin, um es ein wenig besser umspülen zu können. Dabei besah er sich die Narben und strich mit dem Finger vorsichtig darüber. Er lebte nun schon so lange damit, doch störte es ihn immer noch. Louis hatte damals schon festgestellt, dass er eine erneute OP brauchte – und der war noch nicht mal ganz fertig gewesen. War er zu alt und zu verbissen, um sich mit neuen Methoden anzufreunden? Vielleicht hatte auch Liam recht und eine Entfernung der Schrauben wäre eine deutliche Erleichterung. Mit dem Zeigefinger ertastete Harry das Metall und dachte nach. So konnte es nicht weitergehen. In den Weihnachtsfeiertagen hatte er Zeit und würde sich das ganze einmal durch den Kopf gehen lassen. Im neuen Jahr standen noch nicht so viele Termine an und vielleicht entschloss er sich ja tatsächlich zu einem Eingriff. Seufzend schaltete er das Wasser ab und stieg aus der Dusche.

Mit noch leicht feuchten Haaren ging er ins Schlafzimmer und legte sich neben Anton. Er wachte kurz auf, als er ihm übers Gesicht strich und sah ihn aus traumverschleierten Augen an. „Harry?"- „Ja, ich bins. Schlaf weiter, Honey." - „Schön, dass du da bist...", nuschelte Anton und kuschelte sich wieder in sein Kissen. Nachdem er das Licht gelöscht hatte, tastete Harry im Dunkeln nach der Hand seines Freundes, verflocht ihre Finger miteinander und schloss dann die Augen. So konnte er immer am besten schlafen.

3 Years • Part IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt