ACHTZEHN

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Erren taumelte aus der Hütte und rang nach Atem. Luft strömte durch seine Lungen. Sein Herz schlug schneller. Wo war der gottverdammte Bastard hin?!

Er sah sich um. Die Hütte brannte. Und die Uhr tickte. Wie viel Zeit würde ihm bleiben? Wie viele Minuten?

Der Räuber blickte zum Waldrand. Dort stand der große Rappe, und hinter ihm Tharek, der ihm den Rücken zugewandt hatte und dabei war, aufzusitzen. Von Levens keine Spur. War der Mistkerl geflohen?

Erren sammelte seine letzten Kräfte und stürzte sich auf seinen Bruder. Packte den Mann von hinten am Kragen und riss ihn brutal nieder. Er stöhnte. Es hatte ihn mehr Anstrengung gekostet, als er sich eingestehen wollte. Kopfschmerzen dröhnten in seinen Schläfen.

"Was zur-?!" Tharek sah ihn ungläubig an, doch Erren zögerte keine Sekunde und schlug ihm seine geballte Faust ins Gesicht, mit all dem Zorn, der sich in ihm gesteigert hatte. Es tat gut, er fühlte endlich die ersehnte Genugtuung.

Tharek taumelte zurück, doch er fiel nicht. Der Dunkelhaarige riss reflexartig sein Schwert aus dem Gürtel und richtete die blutverklebte Spitze gegen Errens Brust.

Errens Blick fiel auf Feuerstreich, das zu seines Bruders Füßen lag. Jemand hatte es achtlos auf den Boden geworfen, doch die restlichen Waffen fehlten.

Tharek lachte wahnsinnig. "Du willst es wirklich wissen, ja?!"

"Gib mir die Scheißschlüssel!", brüllte Erren ihn an. Er dachte an Faenja und daran, wie wenig Zeit ihm blieb. Ihr blieb. Seine Wangen waren heiß, seine Sicht nur noch unklar. Er schwankte benommen.

"Besieg mich, Cedric!" Tharek fletschte militant die Zähne. In seinen dunklen Augen blitzte der Hass auf, die Sucht nach Blutrache. "Nun mach schon! Bring es zu Ende!" Er hob Feuerstreich vom Boden auf und warf es Erren zu.

Erren umfasste den kalten Stahl geübt, dann zückte er das Schwert aus der Scheide und riss die Klinge hoch in die Luft. Seine Muskeln zitterten, er war schwach und erschöpft, würde jeden Augenblick zusammenbrechen. Vor seinen Augen war Faenja.

Ich lasse dich nicht im Stich.

"Widerliches Arschloch!", fauchte er und stürzte sich auf seinen Bruder. Errens Bewegungen waren schwerfällig und langsam, seine Glieder wie gelähmt.

Tharek wich seinem Angriff mühelos aus, duckte sich unter Feuerstreich hinweg und stach ohne zu zögern nach dem König der Räuber. Blut spritzte, als sich die fremde Klinge in Errens Schulter bohrte. Er biss sich auf die Lippe, um nicht zu schreien, doch blieb wacker auf den Beinen.

Alles in ihm schrie danach, aufzugeben. Er wollte nicht mehr, er konnte nicht mehr. Sein Körper sträubte sich gegen jede Bewegung, die er tat. Doch Erren schlug erneut zu. Diesmal parierte Tharek den Hieb. Ihre Schwerter kreuzten sich, ihre Blicke begegneten sich.

Erren gab ruckartig nach, doch wich nach vorne, um Thareks Schwert auszuweichen, das dadurch kurzerhand die Kontrolle verloren hatte und nach vorn gekippt war.

Er drehte seine Schneide nach außen und streifte seinen Bruder am Becken. Blut tränkte dessen Hemd. Er schrie auf und stolperte zurück.

Doch er fing sich wieder, bleckte die Zähne und schnellte vor. Die geschliffene Klinge schnitt Errens Oberkörper.

Der Schmerz explodierte.

Seine Knie gaben nach und er stürzte auf die Erde. Spitze Steine bohrten sich in sein offenes Fleisch, Dreck mischte sich mit seinem Blut. Er wollte sich aufrichten, doch sein Bruder drückte ihm ein Knie auf die Brust und zwang ihn, sein Schwert loszulassen.

"Tharek!", hauchte Erren schwach. "Du machst einen Fehler, einen gewaltigen Fehler."

"Du hast mich damals im Stich gelassen. Während ich fast umgekommen bin, hast du gemordet und geplündert, dich einen König genannt! Ich hörte die Geschichten, die man sich erzählte, abends an den Lagerfeuern! Sie bewunderten dich, weil du im Westen Aufstände aufgelöst hast!", zischte Tharek bitter. "Aber du hast dich einen Scheißdreck um mich gekümmert! Du wusstest, dass ich noch hier war!"

Sie sagten mir, du seist tot, dachte Erren, doch brachte er keines der Worte über seine Lippen. "Wir... wir sind Brüder, Tharek", stammelte er kraftlos.

Tharek lachte nur traurig. "Du bist nicht mein Bruder, Erren. Nicht mehr." Seine  Hände zitterten, als er das Schwert hob und in seinen Augen flackerte etwas auf, die Erren nicht zu deuten vermochte.

Die Zeit schien still zu stehen. Es war so leise, als hätte man den Ton abgedreht, da war nur ein Herzschlag. War es sein eigener?

Die Klinge stach nach Errens Herz und der Räuber schloss die Augen. Es war vorbei. Er hatte verloren. Faenja würde wegen ihm sterben.

Er hatte sie nicht retten können. Er hatte niemanden retten können. Seine Eltern verbrannten, Lía verbrannte und Faenja würde verbrennen.

Tharek war ebenso tot. Der alte Tharek, den er gekannt hatte, mit dem er aufgewachsen war, den er seinen Bruder genannt hatte, war mit dem Haus seiner Eltern untergegangen. Und der Mann, der nun über ihm stand, war bloß eine leere Hülle, beherrscht von Hass und Gier und Zorn.

Irgendwann geht jede Geschichte zu Ende. Irgendwann klappt man das Buch zu und legt es wieder zurück in den Schrank, wo es zerstaubt und in Vergessenheit gerät.

Meine Worte werden verblassen, mein Name wird zerfallen.

Da war ein Schatten. Jemand zerrte Tharek von ihm. Erren riss die Augen auf und sah Arie. Er sah, wie er sich unter Thareks Schwert stürzte und den Todesstich entgegennahm, der für Erren bestimmt gewesen war.

"Nein!", brüllte Erren. Neue Kraft durchströmte ihn, er riss seinen Bruder von Arie und schlug ihm ins Gesicht, einmal, zweimal, bis Tharek bewusstlos zu Boden sank.

Arie war voller Blut. Die Wunde in seiner Brust war riesig. Erren presste seine Hände auf den Riss in seiner Haut, doch es hatte keinen Sinn.

"Erren, alter Junge!" Arie grinste schwach. "Ich hab' dir doch gesagt, dass ich's bin, der dich irgendwann wieder aus der Scheiße ziehen muss."

Erren hatte Tränen in den Augen. "Nein, nein... ich... du wirst nicht sterben, nicht wahr? Arie, sag mir, dass das nicht passieren wird... bitte."

"Das Leben nimmt seinen Lauf", stieß Arie angestrengt hervor, dann runzelte er schwach die Stirn. "Ich hätte nie gedacht, dass ich mal sowas Schlaues sagen werde."

Erren lächelte, doch die Tränen verschleierten seine Sicht.

"Du hast mir damals das Leben gerettet, erinnerst du dich?"

Erren schluchzte. "Ich könnte es nie... niemals vergessen. Du lagst da auf der Wiese, neben dir all die toten Soldaten."

Arie hustete schwer. "Sie haben auf dich geschossen, alle. Du hattest zwei Pfeile im Rücken und mich trotzdem aufs Pferd getragen." Seine Worte waren erstickt und schwerfällig. Er unterdrückte die höllischen Schmerzen, die in seinen Adern pulsieren mussten. "Geh, Erren... rette... die Prinzessin", flüsterte er unter Stöhnen. "Versprich es mir."

"I...ich verspreche es", flüsterte Erren. Tränen liefen seine Wange hinab, tropften auf Aries Gesicht. Der alte Räuber lächelte schwach. Seine Augen schlossen sich.

Für immer.

"Nein!", heulte Erren und zog seinen Freund in seine Arme. "Nein", wiederholte er schwach. "Arie, tut mir das nicht an! Arie."

Doch der Nachtwind trug seine Worte hinfort.

Blut und AscheWhere stories live. Discover now