Tag 30 // Tag 29

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Tag 30

Als ich von meinem Tod erfuhr, war ich wütend und traurig und hilflos. Und das alles gleichzeitig. Ich verleugnete und verdrängte es und stürzte mich in ein tagelanges Delirium und verlor mich in der Ablenkung.

Jeder war bestürzt, als er von meinem Tod hörte. Aber das, was mich am meisten störte, war nicht mein Tod, sondern das Wissen, dass alle früher oder später mit ihrem Leben weiter machen würden. Und das war, als würde ich zwei Mal sterben.

Diese Angst habe ich immer noch. Ich denke, ich werde sie nie ganz los. Und vielleicht war das auch der Grund, warum ich mich so dagegen wehrte, von zu Hause wegzugehen.

An diesem Freitag fühlte ich diese Angst wieder ganz deutlich. Ich saß im Auto auf der Rückbank. Meine Eltern starrten schweigend durch die Frontscheibe auf die Straße. Wir waren auf dem Weg zu einem Hospiz. Zu meinem Hospiz.

Nachdem ich im Krankenhaus gelandet war, war meine Mutter nicht mehr zu halten. Zum Glück wollte sie mich nicht sofort in eine palliativmedizinische Versorgungsanstalt schicken, aber irgendwann würde sie es tun, und sie wollte, dass ich mir ebendiese Einrichtung vorher ansah. Sie behauptete, ich könne mich damit anfreunden, wenn ich der Sache eine Chance geben würde. Die Wahrheit allerdings war, dass sie sich insgeheim wünschte, ich würde aus freien Stücken hierherkommen.

Als wir durch die Tür traten, begrüßte uns eine ältere Frau, die jeder Bilderbuch-Oma Konkurrenz machen konnte. Sie war entzückend. Selbst ich musste das zugeben.

»Willkommen!«, trällerte sie. »Sie müssen die Grays sein, nicht wahr?« Mum lächelte nickend und schüttelte der reizenden Dame die Hand.

»Ich hoffe, Sie hatten eine gute Fahrt«, fuhr Granny fort. Dann fiel ihr bebrillter Blick auf mich. »Ich nehme an, du bist Jolina?«

»Jo«, korrigierte ich sie automatisch und ignorierte ihre ausgestreckte Hand. Mum warf mir einen Blick zu, der mir signalisierte, dass sie mein Verhalten missbilligte. Ich ignorierte auch sie. Granny ließ sich nichts anmerken.

»Schön«, sagte sie und lächelte wieder. »Ich bin Mrs Clarke. Was halten Sie davon, wenn ich Sie ein wenig herumführe?« Mum übernahm das Reden und lief mit Mrs Clarke voran, während mein Dad sich auf meine Höhe zurückfallen ließ und tröstend einen Arm um mich legte.

Mrs Clarke zeigte uns die Küche und das Esszimmer, wo alle ihre Mahlzeiten einnahmen, die das Bett verlassen konnten. Es ging weiter zum Aufenthaltsraum, wo ein großer Fernseher, ein Klavier, eine Gitarre und ein paar Trommeln standen. Granny bemerkte meinen Blick.

»Donnerstags ist unser Musikabend«, erklärte sie. Wir setzten unsere Führung fort und passierten Zimmer mit Bädern, Büros, Untersuchungsräume und sogar Klassenzimmer.

»Die meisten Kinder besuchen unseren Unterricht, wobei wir uns hier nicht an das herkömmliche Klassensystem halten. Einige haben hier sogar noch ihren Abschluss gemacht.«

»Und was bringt ihnen das?«, hörte ich mich sagen, bevor ich mich stoppen konnte. Es gab wieder einen Blick von Mum, aber es war vielmehr Mrs Clarke, die meine Aufmerksamkeit hatte. Ihre Augen funkelten, als sie mich genau ansah. Plötzlich fühlte ich mich, als hätte ich sie beleidigt.

»Beschäftigung, Jo«, sagte Mrs Clarke. »Hier geht es nicht darum, die Schule zu beenden, sondern es bietet unseren Patienten eine Ablenkung, eine Flucht von ihrem aussichtslosen, medizinischen Alltag. Sie haben ein Projekt, etwas, worauf sie hinarbeiten können. Etwas, was sie wieder mit Ehrgeiz erfüllt. Sie sehen ihre Ergebnisse und ihre Erfolge und erleben in ihren letzten Tagen noch einmal, wie es ist, etwas zu schaffen. Wir bieten ihnen damit ein Stück Normalität.« Nach dieser Rede starrte ich stumm auf den Boden. Machte ich nicht genau das Gleiche mit meiner Geschichte? War ich nicht deswegen so entsetzt darüber, aus der Schule geflogen zu sein?

The Bucket ListWo Geschichten leben. Entdecke jetzt