Zusammenbruch

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~Leander~

Es ist Freitag Abend und ich bin auf dem Weg zu einem Restaurant, in dem sich meine Familie mit dem Elternsprecher treffen will.

Das hat den einfachen Grund, dass sich meine Eltern mit Herr Schwinger angefreundet haben. Zum Glück. Ich wüsste nicht, was ich sonst hätte tun sollen.

Meine Mutter hat mir geschrieben, dass sie gleich von der Arbeit dorthin kommt, weil sie noch etwas länger arbeiten muss, also hab ich mich alleine auf den Weg gemacht. Mein Vater benutzt sowieso nur sein Rad, also hätte ich eh keine Chance auf eine Mitfahrgelegenheit gehabt.

Ich steige an einer Bushaltestelle in der Nähe des Restaurants »Vogelweide« aus und bemerke bei einem Blick auf Google maps, dass die Eishalle auf meinem Weg liegt.

Außerdem bin ich schon fünf Minuten hinter meinem Zeitplan. Verdammt. Es wird mir hoffentlich niemand allzu ernst nehmen.

Mit schnellen Schritten laufe ich durch das Straßenlabyrinth und dann über den Vorplatz der Eishalle. Von hieraus muss ich nur noch durch zwei Querstraßen und dann...

Mein Gedankengang wird von einer mir bekannten Stimme unterbrochen.
Einer Stimme mit der ich zwar hätte rechnen können, die mir aber trotzdem einen harten Stich ins Herz versetzt.

Gwen.

Ich keuche leicht auf und bleibe abrupt stehen. Mein Herz nimmt das wohl als Aufforderung sich bemerkbar zu machen und hämmert nur noch lauter in meiner Brust.

Ich drehe meinen Kopf in Richtung Halle und sehe, wie Gwen und ein Junge, den ich als Alex einordne, auf mich zu kommen. Er hat seinen Arm um ihre Hüfte gelegt und stützt sie beim gehen und sie lehnt sich an ihn als wäre es das natürlichste der Welt.

Und als wäre das nicht schon genug trägt er auch noch ihre Sachen über der Schulter.

Doch was jetzt passiert verschlägt mir den Atem und treibt mir Tränen in die Augen.
Sie halten an, er dreht sich zu ihr und küsst sie zärtlich auf den Mund.

Das ist zu viel für mich. Ich renne so schnell ich kann in die nächste Straße, nur raus aus ihrem Sichtfeld.

Sie hat mich wahrscheinlich nicht mal bemerkt.

Mit langsamen Schritten nähere ich mich meinem ursprünglichen Ziel. Das Auto unserer Familie steht schon am Straßenrand und erinnert mich an meine, jetzt noch stärkere, Verspätung.

So unauffällig wie möglich betrete ich den kleinen Vorraum und drücke die große hölzerne Tür zum Gastraum auf.

Ein Schwall verschiedener Gerüche trifft mich und ich sehe auch schon meine Eltern mit zwei anderen Erwachsenen und anscheinend deren Tochter an einem Tisch sitzen.

Na ganz toll. Das hat mir grade noch gefehlt. Irgend ein fremdes Mädchen mit dem ich, wahrscheinlich aus Ansicht meiner Eltern, ein Gespräch führen soll, während die Erwachsenen über anderes reden.

Mit der schlecht möglichsten Laune geselle ich mich zu meinen Eltern, die mich sogleich mit Arianne (der Mutter), Marius (dem Vater) und Irina (der Tochter) bekannt machen.

Ich bestelle mir bei einer Bedienung ein Glas Sprite und sitze dann mehrere Minuten gegenüber von Irina, die mich offensichtlich mit ihren Blicken verschlingt.

Es sieht aus als würde sie mich einerseits auf der Stelle umbringen wollen, aber gleichzeitig auch sehr begehren.

Normalerweise werde ich nicht direkt als attraktiv bezeichnet, aber dieses Mädchen scheint sehr viel Gefallen an mir zu finden.

Zu viel, wie ich finde. Ich sollte schleunigst was dagegen tun. Nur leider bin ich noch immer nicht in der Verfassung klar zu denken und schon gar nicht, irgendwelche Pläne zu schmieden.

Mein Inneres besteht im Moment aus einem Tornado aus Gefühlen, der sich einfach nicht legen will. In der einen Sekunde bin ich kurz vorm weinen, in der nächsten stockwütend und dann wieder komplett leer.

Was ist das nur für ein Scheiß?!
»Gwen hat ihr eigenes Leben und ist auf nichts und niemanden angewiesen und wenn sie dich in der einen Sekunde küsst, dann ignoriert und dann einen anderen hat, ist das ihre Sache.« sage ich mir in Gedanken, doch das nützt nichts.

Wenn überhaupt, fühle ich mich nur noch schlechter, weil es mir die Tatsachen klar und ungeschönt vor Augen hält.

„Hey. Können wir auch mal rausgehen?", fragt Irina an die Eltern gewandt und schiebt gleich noch ein „natürlich erst, wenn er ausgetrunken hat" hinterher.

Die Reaktion besteht aus einem nebensächlichen Nicken, denn die Konversation scheint gerade sehr interessant zu sein.
So eine Kacke.

Weil ich sie nicht bloßstellen will trinke ich meine Sprite aus und wir stehen auf.

Wie sich herausstellt meinte sie mit »raus« den hinteren Teil des Lokals, einen Garten mit Tischen und Stühlen, der zu dieser Zeit leer ist.
Die Stühle sind zusammengeklappt und die großen Sonnenschirme stehen zusammengebunden zwischen den Tischen.

Routiniert steckt sich Irina eine Zigarette an. Ich verabscheue das Rauchen allgemein und so versuche ich einen gewissen Abstand zwischen uns zu bringen, ohne unhöflich zu wirken.

Erst jetzt fällt mir auf, dass ihr Gesicht eigentlich nur aus Makeup besteht. Ich kann mir noch nicht mal vorstellen wie sie wirklich aussieht. Ich schaudere. Mit solchen Mädchen will ich echt nichts zu tun haben.

Es ist nicht so, dass ich gegen Schminke allgemein bin, aber die Mädchen die sie in diesem Maß benutzen, haben ein echtes Problem mit ihrem Selbst.

Anscheinend hat sie gemerkt, dass ich mich unwohl fühle, denn sie wirft die Zigarette auf den Boden, tritt sie aus, kommt einen Schritt auf mich zu und schenkt mir ein, wahrscheinlich gefaktes, besorgtes Lächeln.

„Ist was?"

Verneinen kann ich schlecht, weil gerade sehr viele Dinge sind, also mache ich nur ein zerknirschtes Gesicht und bleibe stumm.

„Ich könnte dich... ablenken?", fragt sie anzüglich, doch dafür hab ich jetzt echt keinen Nerv mehr.
Halb schüttle ich den Kopf und gehe, vielleicht etwas zu verärgert, zurück in die Gaststube.

„Mir ist etwas unwohl. Kann ich mich zuhause ausruhen?", wende ich mich an meine Eltern.

„Was ist denn los? Du hast doch noch gar nichts gegessen.", fragt meine Mum besorgt.

„Ich fühl mich einfach nicht gut; ich hatte heute einen anstrengenden Tag."

„Dann machst du dir zuhause noch ein kleines Abendbrot und ruhst dich aus, ja?", schlägt mir Dad vor.

Ich nicke in bester Braver-Sohn-Manier und verlasse das Restaurant. (Natürlich nicht ohne noch zum Abschied eine Hand in Irinas Richtung zu heben, die gerade wieder rein kommt; man muss ja höflich bleiben und es ist nur halb ihre Schuld, dass ich abhaue.)

Ich nehme den gleichen Weg zurück zur Haltestelle, da ich jetzt nicht noch riskieren will, mich zum Abschluss dieses WUNDERVOLLEN Tages zu verlaufen. Das heißt aber auch, dass ich an der Eishalle vorbei muss.

Sobald ich die offene Fläche betrete überschwemmen mich die Bilder des Kusses von vorhin.

Meine Sicht verschwimmt und ich muss mich kurz hinhocken um nicht umzufallen. Der Ich-muss-meinen-Schuh-zubinden-Trick ist mir dabei behilflich. Als ich mich wieder soweit gefangen habe, gehe ich so schnell wie möglich zur Bushaltestelle und fahre nach Hause.

Dort angekommen habe ich wirklich nicht mehr die Kraft mir etwas anspruchsvolles zu machen, also esse ich nur ein paar Schnitten und gehe dann ins Bett.

Lange kann ich nicht einschlafen, weil sich bestimmte Szenen von heute immer wieder in meinem Kopf abspielen, doch irgendwann erlöst mich endlich der Schlaf.

normal? schwachsinn!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt