Kapitel 1

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"Es freut uns, dich als Mitbewohnerin zu haben!" Isabel nimmt mich freudig in die Arme. "Danke nochmal für die Möglichkeit", gebe ich lächelnd von mir. Ich mag ihre Herzlichkeit sehr und den funkelnden Stein ihres Medusa-Piercings. "Nicht dafür. Wenn du ein bisschen Frankfurt erkundigen willst, dann gib mir Bescheid. Du wirst es hier lieben! Den besten Döner findest du hier und die verrücktesten Menschen, das kannst du mir glauben." Frankfurt scheint vielversprechend zu sein. Viel habe ich nicht gesehen, da ich erst seit gut einer Woche hier bin. "Gut zu wissen. Danke." Sie geht in ihr Zimmer, weil sie noch lernen muss. Kommunikationsdesgin studiert sie, wenn ich es noch richtig im Sinn habe. Ich setze mich auf mein Bett, atme einmal tief durch und antworte meiner Mutter, die immer auf Trab gehalten will, was mich angeht. Das Seitdem ich nach Frankfurt gezogen bin, muss ich fast jeden Tag eine Art Protokoll in Form einer Audioaufnahme für sie anfertigen, damit sie sich auch versichern kann, dass es mir gutgeht. Bei dem Gedanken, morgen meine erste richtige Psychologievorlesung zu haben, wird mir mulmig. Nicht, weil ich Angst habe, dass ich mit dem Klausurendruck nicht klarkomme, sondern eher wegen den Menschen. Aber wer behauptet denn, dass es genauso charakterlose Menschen sein werden, wie in meiner alten Stufe?

Ich will nicht wieder daran denken, aber wenn ich mich selber damit konfrontiere, dann habe ich irgendwie das Gefühl, dass ich damit von Mal zu Mal besser klarkomme. Eine Art Konfrontationstherapie. Gut wäre es aber, wenn ich die schlechten Erinnerungen mit positiven Gedanken ausschmücke, um sie besser zu verarbeiten. Dass ich als Wette getaugt habe und meine Liebe ausgenutzt wurde, kann ich bis jetzt noch nicht ganz ausschmücken, aber das kommt sicherlich noch. Ich bete ja, dass ich mein Recht zurückbekomme und ich weiß, dass Gott einen Plan für mich hat. Ich sollte aber kein allzu mulmiges Gefühl verspüren, denn die Wahrscheinlichkeit, dass doch jemand aus meiner alten Stufe auch hier in Frankfurt studiert, statt irgendwo in den Kreisen Nord-Rhein-Westfalens, erscheint mir ziemlich gering. Ich hoffe einfach, dass ich dort einige Kontakte knüpfen kann. Mit meinen ehemaligen Freundinnen hege ich keinen allzu starken Kontakt. Zwar waren sie trotz der Demütigung bei mir, aber ich wusste, dass wir trotz dessen, dass wir während den drei Jahren Schule zusammen waren, keinen zu engen Kontakt hatten. Wir waren nur Schulfreunde, mehr nicht. Und ich habe ja noch Isabel und ihre Freundin Emma, die mich sehr mögen. Emma hat mir angeboten, mich bei ihr tätowieren zu lassen, aber ich habe dankend abgelehnt. Vielleicht sollte ich mir auch einen Job nebenbei suchen, aber ich glaube, das wird am Ende nichts.

Der nächste Tag steht an. Es ist mir unfassbar schwergefallen, einzuschlafen, aber irgendwie habe ich es doch hingekriegt. Ich bin aber dennoch nervös und das bemerke ich immer wieder, indem ich unbewusst anfange, meine Handrücken zu kratzen. Egal, wie oft ich mir auch versuche einzureden, dass es hier anders sein wird und keiner hinter meinem Rücken über mich spöttisch tuscheln wird, weiß ich, dass meine Wunde noch nicht abgeheilt ist. Wäre ich zur Einführungswoche gegangen, dann hätte ich mir ein Bild von allem machen können, aber ich habe mich zu demotiviert gefühlt. Jetzt bereue ich es, denn ich werde die ersten Wochen total orientierungslos durch das Gebäude humpeln. Mit roten Handrücken stehe ich vor meinem Kleiderschrank und greife instinktiv nach meinen schwarzen Overknees. Im Herbst trage ich nichts lieber als sie. Allgemein liebe ich Overknees, aber der Herbst gibt mir immer eine Extraportion an Enthusiasmus, sie anzuziehen. Schwarze Overknees und ein langer, grauer Pullover. Ich glaube aber, dass ich noch eine blickdurchlässige schwarze Strumpfhose anziehe. Es wirkt heute etwas kühler. Kombiniert mit einem Gürtel um meine Taille stelle ich mich vor den Spiegel, um zu gucken, was ich mit meinen Haaren machen soll. Dafür, dass ich über Nacht einen Dutt getragen habe, sieht er immer noch echt gut aus. Deshalb lasse ich sie auch so und frische mich im Bad auf.

"Hübsch siehst du aus!" Isabel pfeift nachträglich und Emma zeigt sich beeindruckt von mir. Ich lächele nur verlegen. "Dankeschön." "Setz dich, iss kurz was. Wir können dich direkt mitnehmen." Emma winkt mich zu sich. Ich habe keinen großen Hunger und nehme mir einfach zwei Mandarinen. Es gibt keine Frucht, die ich mehr liebe als Mandarinen. "Freust du dich auf deine erste richtige Vorlesung?", werde ich von Isabel gefragt, was ich bejahe. "Ich hoffe, die Leute sind angenehme Partner." "Ja, das sind sie in der Tat. Frankfurt und seine sympathischen Crackheads, das wirst du lieben", versichert sie mir grinsend. "Ja, wir werden dir die richtigen Leute zeigen. Keine Missgestalten, wie du sie in Erinnerung hast." Emma drückt aufmunternd auf meiner Hand herum. Ich habe ihnen von meiner Demütigung in der Oberstufe erzählt, als wir meinen Schrank aufgebaut haben. Ich kann sie schon als Freunde ansehen - und das macht mir schon Hoffnungen. "Wir sollten losfahren. Du weißt, wie der Verkehr am frühen Morgen ist. Wir lassen dich an der Bahnstation raus, Ayla", stöhnt Emma demotiviert. Meine Herzrate steigt vor Nervosität und meine Nägel strapazieren wieder meinen rechten Handrücken, aber ich kann es echt schwer unterdrücken. Im Auto wird es nur schlimmer. Es wird schon, es wird schon! Die Leute hier sind sicherlich niveauvoller und offener. Wenn Emma und Isabel schon so sympathisch sind, dann werde ich sicherlich auf mehr Leute mit dieser Aura treffen ... hoffentlich.

Der Mann im Schatten *Leseprobe*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt