99|diese Frau

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„Kenan mir geht es überhaupt nicht gut.", flüsterte ich und schloss die Augen. Die Hand an meinem Hinterkopf begann ganz leicht auf und ab zu streichen und ich spürte einen hauchdünnen Kuss auf meinem Haaransatz. „Ich weiß. Du hast dir nh Grippe eingefangen.", erklärte er, doch ich schüttelte kaum merklich den Kopf.
„Das meine ich nicht.."

~

„Hm ich verstehe.", murmelte mein Arzt vor sich hin und notierte, was ich ihm mitteilte. Nämlich, dass ich mir eingebildet hatte, Blut zu sehen, wo gar keines war. Natürlich hatte ich ihm nicht die ganze Geschichte erzählt, sondern nur, dass Kenan eine Schnittwunde hatte und ich sie viel extremer wahrnahm, als sie eigentlich war. Mir ging es noch immer ganz schön schlecht und ich fröstelte ein wenig während ich auf der Liege saß und zu ihm sah.
Er blickte kurz zu mir auf. „Gibt es sonst noch etwas, was ich wissen sollte?" Ich zuckte mit den Schultern und öffnete den Mund. „Nun.. Seit der Fehlgeburt geht es mir wirklich schlecht und irgendwie.. wenn ich mir sage, dass ich nun weitermachen sollte, dann klappt es nicht. Ich kann meine Emotionen nicht kontrollieren und sie leiten mich bis ich wieder zurück in die Realität geholt werde." Er nickte und notierte sich etwas, bevor er wieder zu mir sah und ich tief durchatmete.
„Anfang letzten Monat, als das passiert war, da war es meine eigene Entscheidung nicht weitermachen zu wollen, aber jetzt fühlt es sich so an als würde mich jemand festhalten, dass ich nicht nach vorne sehen kann, wie ich es möchte.", erzählte ich weiter und knotete nervös meine Hände zusammen,„Nehmen wir mal an.. ich sehe meinen Mann mit einer anderen Frau.." Flüchtig sah ich zu ihm auf und er sah mich noch immer konzentriert an, dass ich fortfuhr:„Dann schaltet mein Gehirn komplett ab und setzt das durch, was es will und das ist wütend sein, herumschreien und ihn damit konfrontieren, wobei ich selbst doch eigentlich reden will." Ich biss mir auf die Unterlippe, denn es einer dritten Person zu erzählen, fühlte sich falsch an, doch ich konnte nicht anders. Er war mein Arzt und konnte mir vielleicht helfen hier rauszukommen. Das hatte ich doch schon einmal geschafft.

„Ihre Emotionen haben also ein Eigenleben entwickelt.", fasste er zusammen und ich nickte. Der grauhaarige Mann stand auf und sah weiterhin auf meine Unterlagen. „Ich würde mal behaupten sie sind verrückt." Ich kniff die Augen enger zusammen und lehnte mich vor. „Wie bitte? Ich bin nicht verrückt!"
Schockiert sah er mich an und schüttelte kurz den Kopf. Alarmiert legte er die Unterlagen an die Seite und legte mir eine Hand an die Schulter, die ich sofort wegschlug. „Frau Aksoy, sehen Sie mich bitte an.", sprach er sanft auf mich ein und ich weigerte mich,„Niemand hat behauptet Sie wären verrückt okay? Verstehen Sie das?" Meine Hände zitterten und mein Herz schlug doppelt so schnell wie üblich. Ein kalter Schweißfilm bildete sich auf meiner Haut und ich atmete tief durch.
Ich war nicht verrückt. Ich war nicht verrückt. Das sollte wohl mein Mantra werden.
Ganz langsam nickte ich und kurz darauf brach ich in Tränen aus.

[...]

Es war einfach ins Krankenhaus zu fahren, da Kenan heute widerwillig zur Arbeit gehen musste und eigentlich dachte ich, dass ich wieder zuhause wäre, bevor er kam, doch wie es schien hatte er andere Pläne. Wütend stampfte er in den Flur und kam geradewegs auf mich zu.
„Spinnst du? Du bist krank und verlässt das Haus?", fuhr er mich sofort an und legte seine großen Hände an meine Wangen. Erschöpft sah ich auf den Boden und hatte Probleme dabei noch gerade zu stehen.
Auf dem Weg hierher musste ich rechts ran fahren und für fünf Minuten einfach im Auto sitzen, weil mir so schwindelig war. Doch das würde ich Kenan niemals erzählen.
„Mir geht es gut. Ich war nur bei der Apotheke.", antwortete ich und das stimmte sogar, denn mein Arzt hatte mir Medikamente verschrieben, die ich einmal Abends und Morgens einnehmen sollte, damit meine Wahnvorstellungen nicht zunahmen und ein wenig nachließen. Er konnte mir aber nicht versprechen, dass sie vollkommen verschwanden.

Ich machte einen Schritt vor und wollte hoch, denn ich hatte wirklich keine Kraft mehr auf Beinen zu stehen. Kenan wollte mich daran hindern, doch ich knickte um und sofort hielt er mich fest. „Ich hätte nicht zur Arbeit fahren sollen.", murmelte er eher zu sich selbst und ich knirschte mit den Zähnen. Das hatte er gerade wirklich gesagt und es störte mich. Ich war doch kein verdammtes Kind, dass man sich rund um die Uhr um mich kümmern musste! Ich war eine erwachsene Frau mit einer Grippe. Na und? Ich war schon nicht die Erste.
Ohne ein Wort zu sagen drückte ich seine Hand von mir und ging ganz ganz langsam die Treppen hoch ins Schlafzimmer.

Der Grund, weshalb ich Kenan nicht erzählte, dass ich im Krankenhaus aufgrund von Wahnvorstellungen war, war, dass ich nicht wollte, dass er sich noch mehr sorgte.
Ich zog mir mein Oberteil über den Kopf und griff nach einem gemütlichen Sweater, doch bevor ich ihn überzog schweifte mein Blick in den Spiegel.
Meine Augen wanderten an mir herunter zu der länglichen Narbe an meinem Bauch. Mittlerweile hatte ich noch wirklich damit abgefunden und verstand auch, dass ich mich nicht dafür verstecken brauchte, denn das zeigte nur, dass ich überlebte, doch mit dieser Narbe war der Autounfall verbunden, damit dann auch mein Koma und das führte überhaupt in diese Situation.

Meine Augen brannten.
Wieso schied sich Kenan nicht von mir? Jeder Mann hätte das getan, denn wer würde eine Frau wie mich noch an seiner Seite haben wollen?
Eine Frau, die verrückt wurde.
Eine Frau, die ständig auf ihm herumtrampelte, wenn sie die Gelegenheit dazu hatte.
Eine Frau, um die man sich ständig kümmern musste.
Eine Frau, die.. nicht einmal ein Kind auf die Welt bringen konnte.

Beim letzten Gedanken schluckte ich schwer und wand den Blick von mir selbst ab. Ich war eine fürchterliche Frau. Ich selbst würde nicht einmal bei mir bleiben, wenn ich abhauen könnte.

Uaaah noch ein Kapitel.
Ich hoffe das ändert sich nicht 😅
Seren wird irgendwie immer depressiver. Ich glaube nicht nur ihr Gehirn übernimmt die Kontrolle über ihren Körper, sondern über ihre gesamte Person in diesem Buch. Ich schreibe momentan an meiner nächsten Geschichte und bin jetzt irgendwie komplett raus, welches Datum sie hier hätten. Zum Glück habe ich mir alles nochmal aufgeschrieben 😂

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