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Pedro

Mein Herz schlägt wie verrückt. Ich sitze nur auf meinem Bett, komme trotzdem nicht wirklich zur Ruhe. Ich habe vielleicht zwei Stunden schlafen können, die restliche Zeit habe ich mich hin- und hergewälzt. Aus dem Zimmer bin ich erst gekommen, als ich die Haustür ins Schloss fallen gehört habe. Ich will Ámbar nicht sehen.

Das war heute Nacht der erste richtige Streit und vielleicht sollten wir erstmal etwas Abstand zueinander haben. Sie versteht mein Problem nicht und solange sollten wir nicht viel Zeit miteinander verbringen. Manchmal rutschen mir Dinge raus, die ich nicht so meine und da will ich Ámbar nicht verletzen. Vermutlich habe ich das sowieso schon. 

Ich gehe ins Bad und blicke mich im Spiegel an. Man sieht mir die Schlägerei an. Man sieht mir die Schlaflosigkeit an. Man sieht mir an, das ich gerade unglücklich bin. Vor 24 Stunden war noch alles gut, selbst das fliegen war in Ordnung und jetzt scheint irgendwie alles kaputt zu sein. Es kann keiner nachvollziehen, wie ich mich fühle. Vom Opfer zum Täter. 

Und ich kann mit niemandem darüber reden. Der einzige, der mir in den Sinn kommt wäre Diego, immerhin weiß er ja von der Attacke. Allerdings weiß ich genau, wie er reagieren würde. Genau wie Ámbar. Und eine männliche Version davon brauche ich einfach nicht. 

Vielleicht Matteo? Er weiß vom ersten Angriff und ist nicht immer so emotional wie Ámbar und Diego. Außerdem hat er mir eigentlich immer helfen können, bester Beweis ist meine Krankheit. Bevor ich meinen Bruder anrufe, gehe ich duschen und mache mich ein wenig frisch, damit ich nicht mehr aussehe wie der lebende Tod. 

Matteo geht nicht sofort ran, es braucht bestimmt zehn Anrufe, bis mein Bruder ihn immerhin mal annimmt. 

"Pedro, was gibts?"

"Könntest du in deiner Pause vorbeikommen?"

"Ist was passiert?"

"Nein, also ja...kannst du oder nicht?"

Ich will das nicht am Telefon besprechen.

"Natürlich, ich kann in einer halben Stunde da sein", sagt er zu und ich bedanke mich, ehe ich auflege. 

Dann warte ich. Jedoch taucht Matteo nach dreißig Minuten nicht wie gesagt bei mir auf. Er hat mir auch nicht abgesagt, was mich wundert. Mein Bruder ist normalerweise zuverlässig und schreibt sogar, wenn er sich nur um drei Minuten verspätet.

Ich rufe ihn mehrmals an, doch er geht nicht ran. Ich schreibe ihm Nachrichten, auf die er aber nicht antwortet. Da ich mir Sorgen um ihn mache, beschließe ich zu ihm auf Arbeit zu fahren. Der Weg ist zwar nur kurz, trotzdem nehme ich das Auto, so fühle ich mich sicherer. 

Ich parke vor der Bank und frage bei einer der Mitarbeiterinnen nach Matteo. Er hat sich für den Rest des Tages freigenommen. Das passt nicht zu ihm.

Das ist komisch, absolut komisch. Ich gehe nach draußen und setze mich sofort wieder in den Wagen, nur zur Sicherheit. Erneut versuche ich meinen Bruder zu erreichen. So langsam werde ich wahnsinnig. Gott sei Dank geht er diesmal ran.

"Wehe du jagst mir nochmal so einen Schrecken in!", brumme ich sofort.

"Sorry Pedro, es ist mir was dazwischengekommen, ich könnte mich jetzt auf den Weg machen."

"Wo bist du? Dann nehme ich dich gleich mit."

"Wo bist du denn?"

"Ich stehe vor deiner Arbeit, weil ich dachte du bist dort."

"Komm ins Café, dort wird über dich geredet."

"Was? Wer? Und wo bist du überhaupt?", beginne ich zu fragen.

"Ich bin gerade hinten im Lager, hole mir was zu trinken. Ich war auf dem Weg zu dir, als ich ins Café gezogen wurde. Keine Ahnung was das für ein Therapiekreis wird, aber ich mach da nicht mit, nur damit du Bescheid weißt", äußert er sich verärgert.

"Schon gut, alles okay. Ich bin gleich da."

Ich lege auf und parke das Auto um. Ich schaue erst durch die Scheibe und erkenne all meine Freunde. Ich balle meine Hände zu Fäusten, betrete sauer mein Café. Alle fahren herum, als sie mich sehen und der Schreck steht ihnen ins Gesicht geschrieben, außer meinem Bruder.

"Was wird das hier?"

"Ich kann das erklären", macht Ámbar einen Schritt auf mich zu und streckt ihre Hand nach mir aus.

"Na, hast du allen schon erzählt, was heute Nacht war? Oder du, Diego? Hm?", schaue ich zwischen meiner Freundin und meinem Kumpel hin und her. 

"Keine Antwort, ist Antwort genug."

Ich bin wütend. Warum muss jeder davon erfahren? Ich erzähle auch nicht allen das Naty schwanger ist oder so. Ich kann die Dinge gut für mich behalten, von meiner Infektion wusste man ja auch jahrelang nichts.

"Wir wollen dir helfen", spricht Ámbar dann leise und ich verdrehe meine Augen. Ich hasse diesen Satz.

"Ich will das nicht hören, ich brauche keine Hilfe."

"Setz dich hin", befehlt Diego und rückt mir einen Stuhl zurecht.

"Ich werde jetzt nach Hause gehen und ich will keinen von euch sehen die nächsten Tage. Ich hoffe du kommst ohne mich klar, Nico."

Ich warte nicht auf seine Antwort, verlasse einfach das Café und gehe schnell zum Auto, Matteo folgt mir.

"Darf ich mitfahren?"

"Steig ein", antworte ich und dann fahre ich uns zu mir. 

Mein Bruder sagt kein Wort, wofür ich ihm dankbar bin. Erst als wir die Wohnung betreten bricht er sein Schweigen.

"Wie gehts dir?"

"Beschissen. Ich habe Schuldgefühle...Àmbar hat ja sicherlich alles erzählt."

Sicherlich wird sie mein Leben breitgetreten haben.

"Hat sie und irgendwie kann ich verstehen, warum du Schuldgefühle hast, aber irgendwie auch nicht. Du hast dich verteidigt, vor den Männern, die dich schon mal physisch verletzt haben. Deine Reaktion ist verständlich und ich wünschte, ich könnte dir gerade irgendwie helfen..wenn das jemand nicht verdient hat, dann du."

"Ich hätte fast ein Messer gezückt, welches ich vor lauter Panik immer mit mir trage."

Irgendwie bin ich froh, das ich es noch nicht eingesetzt habe.

"Du hast ein Messer bei dir?"

Matteo sieht mich überrascht an und ich hole die Waffe aus meiner Jackentasche. 

"Es ist klein, aber effektiv denke ich", betrachte ich es von allen Seiten, als Matteo es mir aus der Hand nimmt und mich dann in eine Umarmung zieht.

"Kleiner Bruder, was machst du nur?", murmelt er leise und legt das Messer weg, während ich einfach nur schweige. Deswegen bin ich froh meinen Bruder zu haben. In solchen Momenten kann ich mich immer auf ihn verlassen, das war nach meiner Diagnose nicht anders. 

"Ich habe eine Idee", redet er dann, nachdem wir kurz geschwiegen haben und ich löse mich von ihm, "Du ziehst dir jetzt Sportsachen an und dann geht es ins Fitnessstudio."

"Ich habe wieder zahlreiche Verletzungen, ich glaube Sport würde mir nicht gut tun."

Schon alleine die Wunde an meiner Hand durch die Scherben heute Nacht würden mich daran hindern.

"Keine Sorge, wir machen keinen wirklichen Sport, ich bringe dir nur bei, wie man sich selbst verteidigen kann."

"Das kannst du?", hebe ich ungläubig eine Augenbraue.

"Ey, was soll das denn heißen?", beginnt er zu schmunzeln, steckt mich damit an.

"Nichts, ich bin nur überrascht", grinse ich und Matteo schüttelt amüsiert den Kopf.

"Jaja, Klappe jetzt. Umziehen und dann gehen wir los."

"Alles klar, Captain!", salutiere ich und gehe Richtung Schlafzimmer, als ich mich nochmal zu ihm drehe, "Danke, Matteo."

Nach Beziehungsdramen, Gewalt usw. sind wir mittlerweile mal wieder bei ein wenig Geschwisterliebe. :D

Zwischen zwei UferWo Geschichten leben. Entdecke jetzt