Kapitel 19

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Ich weiss, dass ich wieder wach bin, doch die Leute die sich um mich scharen, wissen es nicht. Ich liege seelenruhig da und versuche keinen Muskel zu bewegen. Dieses ganze Licht an, Licht aus, geht mir so langsam ziemlich auf den Geist. Wieso können sie mit mir nicht einfach das selbe machen, wie mit allen anderen, die die Arena überlebt haben. Eine normale "Siegerehrung" hätte mir schon gereicht. Ich möchte einfach zurück nach Hause und meine Familie wiedersehen. Plötzlich kommt mir ein ganz komischer Gedanke: Mein Vater sagte mir, dass ich während meines Aufenthaltes im Capitol immer das tun muss, was die Leute dort von mir verlangen. Denn wenn der Präsident nicht das bekommt, was er will, gibt es Konsequenzen. Und das nicht nur für mich allein, sagte er. Was wenn der Presindent nun das selbe mit meiner Familie macht, wie bei dem Gewinner des zweiten Jubel-Jubiläums - Haymitch Abernathy. Ich weiss, dass sie damals seine komplette Familie töteten, weil er die Spiele anders gewann, als es vorgesehen war.
Und ich widersetze mich konkret gegen den Willen des Präsidenten.
Wer weiss, ob meine Familie überhaupt noch am Leben ist? Plan, Plan, Plan! Ich brauche jetzt dringend einen funktionierenden Plan!
Auf einmal legt mir irgendwer irgendetwas auf die Augen. Eine Art Brille oder so. Ohne dass ich meine Augen öffne, sehe ich plötzlich Bilder aus Distrikt vier. Alles ist überflutet. Es stehen kaum noch Häuser am Rand der Strassen. Die Gassen sind gefüllt mit Strömen von Wasser, welches sich beim zweiten Hinsehen zu Blut verwandelt. Menschenkörper werden mitgerissen sowohl tote, als auch lebendige, die um Hilfe schreien und mit den Armen rudern, um sich über Wasser zu halten. Plötzlich vernebelt sich das Bild vor meinen Augen und ich sehe mein Zuhause vor mir auftauchen. Erleichterung steigt in mir auf, denn mein Haus steht komischer Weise nicht unter Wasser, bloß das Licht flackert. Durch die Brille sieht es so aus, als würde ich mich fortbewegen. Als würde ich geradewegs in das Haus hinein gehen, obwohl ich meine realen Beine nicht bewege. Drinnen ist zwar eine dünne Schicht Wasser auf dem kompletten Boden, doch die anderen Häuser hat es viel mehr erwischt. Plötzlich höre ich Rufe aus dem Wohnzimmer. ,,Annie! Annie, wo bist du?", ruft er immer wieder. Ich erkenne sofort die unverwechselbare Stimme meines Vaters. Ich will zu ihm laufen, doch stoße plötzlich an etwas am Boden liegenden. Ich sehe nach unten und entdecke meine Mutter dort. Obwohl ich eigentlich weiss, dass das wahrscheinlich nur eine Simulation ist, muss ich einfach nach meinem Vater rufen. ,,Dad! Sie ist hier!", schreie ich. ,,Annie!?", brüllt er bloß, doch kommt nicht zu uns. Ich stehe auf und laufe in Richtung Wohnzimmer, um nachzusehen was mit ihm los ist. Doch dann rennt er geradewegs an mir vorbei, ohne mich überhaupt bemerkt zu haben. Für einen Augenblick hatte ich vergessen, dass es bloß eine Täuschung des Kapitols ist. Das alles passiert nicht wirklich.
Mein Vater kniet sich neben meine Mutter und ergreift ihre Hand. ,,Annie! Komm schon! Wach auf!", fleht er. Nach einigen Sekunden lässt er ihre Hand fallen.
Langsam gehe ich auf die beiden zu und knie mich neben meinen Vater. Sein Blick ist emotionslos geworden. Er starrt durchgegehend auf ihre Hand, als würde er darauf hoffen, dass sie seine Hand ergreifen wird. Doch das wird nicht passieren. Ihre Augen sind geschossen und die Atembewegungen sind verschwunden. Das Capitol lässt es so aussehen, als wäre meine Mutter gestorben, um mich aus der Fassung zu bringen. Doch dieses ganze Szenario war nicht real und dessen bin ich mir klar.

Plötzlich verschwindet das Bild vor meinen Augen einer Nebelwolke. Einige Sekunden herrscht eine unangenehme Stille, bis ich auf einmal einen unfassbar schmerzhaften Schlag auf mein Jochbein bekomme. Aus Reflex versuche ich meine Hand zu der Stelle zu bewegen, doch wie erahnt sind meine Hände wieder gefesselt. Ich bin gezwungen meine Augen zu öffnen, da ich sonst keine weitere Möglichkeit auf eine Erklärung für den Schmerz finden würde.
Vor mir stehen mehrere Personen in Laborkitteln und Klemmbrettern. Fast alle von ihnen tragen eine Brille. Zu meiner linken steht ein mindestens 2m großer Mann in einer Art grauer Rüstung mit einer Peitsche in der rechten Hand. Damit muss er mich geschlagen haben. Bis jetzt hatte ich mich ja zurückgehalten, aber jetzt möchte ich langsam mal wissen, was das ganze hier eigentlich soll?
,,Miss Odair, wir werden Ihnen jetzt den Plan verraten. Wir schicken Sie nun für einen Tag nach Distrikt 2. Danach beginnt die Siegertour. Du befolgst einfach die Anweisungen, die wir die geben, und dir passiert nichts.", erklärt einer der Kapitolsleute. ,,Distrikt 2?", frage ich. Sofort regt sich der 2m Mann neben mir wieder und holt mit der Peitsche aus. Im letzten Moment ergreift eine Frau im Laborkittel die Peitsche und hindert ihn mich zu schlagen. ,,Es reicht.", sagt sie bloß. Er sieht sie leicht verwirrt an und stellt sich dann zurück zu seinem Platz.
Im nächsten Moment läuft sie dann auf mich zu und kniet sich zu mir. ,,Ja, wir werden dich nach Distrikt 2 schicken. Du musst wissen, dass es einige Turbulenzen gab, nachdem die Spiele vorbei waren. Wie soll ich's nett verpacken... Distrikt 4 ist den Bach runter gegangen.", meint sie. Einige Sekunden herrscht Stille im Raum, bis die Frau plötzlich laut loslacht. Sie fande ihren eigenen Witz wohl ziemlich gelungen. Ich jedoch wundere mich eher was nun wirklich mit meinem Heimatdistrikt passiert ist. Als die Frau sich wieder gefangen hat, spricht sie gleich wieder drauf los: ,,Ich war ja dafür, dir schlichtweg alles genau im Detail zu schildern, aber die meisten waren dafür, dir die 3D-Brille aufzusetzen und es dich selbst sehen zu lassen. Sie meinten es wäre angsteinflösender.", berichtet sie. ,,Angsteinflösender? War das denn alles echt, was ich gesehen habe?", will ich wissen. ,,Ja, natürlich. Nachdem sie gesehen haben, wie Levi sich selbst getötet hat, ist die Hölle ausgebrochen und-" ,,Abteilungsleiterin Hanji, ich denke es wäre dieses mal besser, wenn sie nicht alles ins kleinste Detail erfährt. Sie sollte bis nach der Tour ahnungslos bleiben.", unterbricht sie einer ihrer Kollegen. ,,Ach, Schnick Schnack! Irgendwann hätte sie es sowie so erfahren. Warum dann also nicht jetzt sofort?", meinte sie darauf hin. Das ging alles gerade viel zu schnell. Wenn alles echt war, was ich gesehen habe, dann bedeutet das, dass meine Mutter tot ist!
Ich unterbreche die Auseinandersetzung zwischen Hanji und ihrem Kollegen: ,,Sind sie am Leben? Meine Familie?", frage ich vorsichtig. Hanji und der Typ im Laborkittel wechseln einen Blick. Dann dreht Hanji sich wieder zu mir um. ,,Ehrlich gesagt sind wir uns dessen nicht sicher. Nachdem alles verwüstet wurde ist niemand mehr dorthin gegangen. Uns wurden noch keine Todesbefunde zugeschickt. Es ist gut möglich, dass sie nach Distrikt 5 geflüchtet sind.", antwortet sie. ,,Warum bringt ihr mich dann nicht dorthin?", wispere ich. ,,Distrikt 2 ist im Moment der sicherste Ort, weil bis dorthin die meisten Friedenswächter gekommen sind, da sie sich nicht weiter trauen. Ich bezeichne es als feige, doch andere wiederum bezeichnen es als Eigenschutz.", berichtet sie und schiebt ihr Brille ein Stück hoch. Da Hanji wohl nun mit dem Reden fertig ist, gibt sie dem 2m Typen neben mir ein Handzeichen. Dieser begibt sich daraufhin hinter mich und löst die Fesseln von meinen Händen und Füßen. ,,Mitkommen.", sagt er stumpf. Ich blicke Hanji und dem Rest ihrer Kollegen noch nach, bis sie außer Sichtweite sind. ,,Sieh nach vorn!", murrt er schroff. Ich bemerke langsam, dass der Ort in dem ich mich die ganze Zeit befand, der Untergrund des Kapitols war. Wir laufen eine gefühlte Ewigkeit eine riesige, graue Treppe hinauf, bis wir endlich das Ende erreichen. Doch eigentlich hätte ich mich viel lieber zurück in den Untergrund verkrochen, als hier oben der schmerzhaften Wahrheit zu begegnen.

Die 90. Hungerspiele- Rückkehr eines OdairsWhere stories live. Discover now