15| dein Wolf

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Kapitel 15|
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Wie in Trance stand ich vor ihr.

Das aus der Tür fallende Licht erhellte mein zuckendes Gesicht, das höchstwahrscheinlich jedes meiner Gefühle nur zu gut widerspiegelte.

Fassungslosigkeit.

Verwirrung.

Freude.

Wut.

Und die Trauer, die ich um ihren Tod empfunden hatte, kroch leise aus meinem Herzen in meinen Kopf.

Meine Augen wanderten abermals über ihren Körper.

Durch das schlichte Kleid drang an vielen Stellen ihre Haut durch. Arme und Hals lagen frei, ebenso ein Teil ihrer Schultern und ihre Hände. Nirgendwo konnte ich Brandnarben erkennen. An keiner einzigen Stelle. Im Gegenteil, ihre Haut war makellos wie eh und je. Aber das Feuer ... Sie war in dem Haus gewesen. Definitiv. Ich war bei ihr gewesen, keine zwei Minuten bevor das Feuer ausgebrochen ist. Es gab keine Spuren von ihr, die darauf hätten hinweisen können, dass sie es lebend herausgeschafft hatte. Alles ist zerstört gewesen. Abgebrannt nach dem explodierten Zaubertrank.

»Kommt rein, kommt rein«, sagte Gia unwissend über meine Gedanken. Suchend sah sie die Straße herunter, ehe sie wieder in den Flur trat und die Tür weiter öffnete. Ihre Augen sprangen zu jedem Schatten, als hätte sie Angst vor ihnen. »Auf der Straße ist es für keinem von uns sicher. Lasst uns drinnen weitersprechen.«

Ich versuchte ihr zu folgen. Es war das einzig logische, immerhin war es so spät in diesem Viertel tatsächlich alles andere als sicher. Doch meine Beine gehorchten mir nicht mehr. Mein Körper war taub. Und ein Gedanke wiederholte sich immer und immer wieder in meinem Kopf: Sie lebte.

Sie stand vor mir. Lebend. Atmend. Unversehrt. Die zweite Person war innerhalb weniger Stunden von den Toten auferstanden.

Doch bei Gia fühlte es sich anders an als bei Liv. Natürlich war da diese Wut darüber, angelogen worden zu sein. Und auch das Gefühl des Verrates und die Freude, sie zu sehen, aber ... Irgendwie hatte ich keine Kraft mehr dazu, mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Es wirklich zu verstehen. Denn das alles – es fühlte sich an wie ein bizarrer Traum.

Ich konnte mich noch genau an den Tag erinnern, als es passiert ist. Ausnahmsweise hatte ich eine Lehrstunde von ihr erhalten, der größten Kriegshexe unseres Zirkels. Ich bin gegangen bevor es dunkel wurde und kaum hatte ich die Haustür hinter mir zugeschlossen, hatte ich es gespürt. Ihre schwindende Kraft, die sich schlagartig von uns allen losgelöst hat. Die Nachricht über ihren Tod wurde schneller bekannt als irgendetwas zuvor. Magaritte hatte daraufhin eine Woche alle Unterrichtsstunden abgesagt. Man sah ihr an, dass sie sich danach dazu gezwungen hat, genau da anzuknüpfen, wo sie aufgehört hatte. So zu tun, als wäre nichts geschehen. Es war das erste und einzige Mal gewesen, dass sie eine wirkliche emotionale Reaktion gezeigt hatte und ich war mir damals sicher gewesen, dass ich so etwas nie wieder erleben wollt. Selbst nach dem heiligen Ritual der vergangenen Seelen Polasteela kehrte das Leuchten nicht in ihre Augen zurück. Sie konnte unmöglich davon gewusst haben. Diese Trauer hätte sie unmöglich vortäuschen können. Sie hat alles gewusst, was im Zirkel geschah. Selbst der Rat hatte sie nicht anlügen können.

Aber was wusste ich schon davon, was im Zirkel vor sich ging? Was der Rat wusste und was nicht? Es gab eine freilaufende schwarze Hexe und keiner unternahm etwas dagegen. Für totgeglaubte Hexen lebend aufzufinden schien mir langsam keine so große Sache mehr zu sein.

Eine warme Hand legte sich auf meinen Rücken.

Wie Brandfeuer schlug die Wärme durch die Jacke zu mir durch. Gänsehaut bildete sich auf meiner Haut. Mein Herz stockte. Dann kam endlich wieder das Gefühl in meinen Körper zurück. Ich riss meinen Blick von ihrer gebeugten Figur ab und sog so viel Luft in meine Lunge wie möglich.

Moonchild  - Entfesselte DunkelheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt