6 - Jahre

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Dunkelheit, Schwärze und Schatten. Egal wo ich hinsehe; es ist dunkel. Ich versuche mich zu orientieren, doch ich weiß nicht wie. Als ich etwas spüre, zucke ich zusammen und es überwältig mich beinahe. Habe ich eben etwas gespürt? Bin ich zusammengezuckt? Aber mit was habe ich diesen Windhauch gespürt? Ich tappe weiter im Dunkeln herum. Völlig überfordert, völlig aufgedreht. Als ich merke, dass ich so nicht weiterkomme, versuche ich mich zu beruhigen und es ist beinahe ein Reflex tief durchzuatmen.
Ich atme.
Der Gedanke daran überwältigt mich erneut.
Ich denke.
Für ein paar Momente konzentriere ich mich auf meine Atmung und erst nach weiteren Sekunden kommt mir diese so laut vor.
Ich höre.
Ich will weitergehen und diesen Windhauch nochmal spüren. Ich will mehr spüren. Ich versuche angestrengt über meinen Horizont hinauszugehen, doch es ist so schwierig und ich weiß nicht wie lange es dauert, denn in meiner momentanen Lage existiert Zeit nicht.
Irgendwann merke ich es. Irgendwann spüre ich meine Brust, wie sie sich langsam hebt und senkt, mit jedem neuen Atemzug. Irgendwann spüre ich die Luft, die ich mit der Nase ausatme, ganz sanft auf meiner Oberlippe und irgendwann spüre ich den leichten Windzug erneut auf meiner Haut und ich kann sogar ganz genau sagen wo. Durch die kalte Brise bildet sich eine Gänsehaut auf meinem rechten Arm, die sich weiter ausbreitet. Ich will meine Hand heben, ich will sie bewegen, doch es ist so unfassbar schwierig, als würde ein Gewicht auf ihr liegen. Ich will nachsehen, warum es nicht
geht. Ich will sehen.
Es fühlt sich an, als würde ich eine Klippe hinaufklettern. Mit jedem Stein, nach dem ich greife, komme ich ein Stück weiter. Ein Stück näher an die Oberfläche, doch mit jedem Mal hat man auch weniger Kraft. Der letzte Schritt ist der Griff nach dem Klippenrand ganz oben, doch es ist auch der schwerste.
Ganz langsam beginne ich meine Augen zu fühlen, zu wissen, wo sie sich befinden und vielleicht bilde ich es mir auch ein, doch ich spüre, wie sie zittern. Ich habe nach der Klippe greifen können, doch ich muss mich noch hochziehen. Ich muss nochmal meine letzte Kraft zusammennehmen, auf die Zähne beißen und mich hochhieven. Ich muss es schaffen, ich muss es machen - und ich öffne sie. Ich öffne meine Augen. Ich öffne sie, ich blinzle, und ich sehe. Ich bin da. Ich bin hier.
Ich kann gar nicht richtig auf diese Tatsache reagieren, da augenblicklich unzählige Eindrücke auf mich einprasseln. Helles Sonnenlicht lässt die weißen Wände noch greller wirken und ich kneife die Augen zusammen. Als ich plötzlich Hände an mir spüre und etwas gegen mich stößt, sodass ich mich kurz bewege, reiße ich sie wieder auf. Menschen stehen neben mir. Ich sehe den Mann direkt an meiner rechten Seite, ich sehe eine junge Frau am Bettende und eine hektisch hin und her laufende zweite. Meine Augen schnellen so rasant von rechts nach links, nach oben und unten und wieder zurück, dass sie schmerzen und meine Atmung beschleunigt sich. Es ist so schrecklich laut und dennoch verstehe ich nichts. Mein Kopf schmerzt und ich will mir die Ohren zuhalten, doch ich kann meine Arme nicht heben.
Innerhalb von wenigen Sekunden scheine ich das komplette Zimmer mit meinem Blick zu scannen. Die gelben Tulpen auf dem hölzernen Tisch gegenüber, die bunten Bilder an der Wand mit den abstrakten Formen, die Deko, die von der Decke hängt und das riesige Fenster. Das Licht brennt sich beinahe in meine Augen ein und ich kneife sie erneut zusammen. Meine Atmung beschleunigt sich immer mehr, mein Brustkorb kommt kaum noch hinterher mit dem Heben und Senken. Ich sehe die unzähligen großen Geräte und verfolge die Schläuche, die sich den Weg in meine Arme bahnen. Spätestens, als ich meinen Körper mustere und all die Einstichstellen, Schläuche und Verbände sehe, macht sich die Panik endgültig in mir breit. Das Adrenalin pumpt durch meinen Körper und erlaubt, dass ich endlich meine Arme heben kann. Ich greife völlig durcheinander nach den Kathetern, um sie rauszuziehen, doch ich werde von einer der Frauen abgehalten, die meinen Arm packt. Während ich immer mehr das Gefühl für meine Motorik bekomme und mehr Kontrolle erlange, beginne ich um mich zu schlagen. Ich will aufstehen, fange an gegen das Bettende zu treten. Ich will schreien, doch es kommt nichts.
Mit jeder Sekunde werde ich panischer, weil ich nicht weiß was hier vor sich geht. Ich weiß nicht, weshalb ich hier liege, wieso ich mich so seltsam schwach fühle, warum ich mit diesen Geräten verbunden bin und was diese Menschen von mir wollen. Die Situation macht mir Angst und ist so fremd. Nichts in diesem Raum gibt mir Ruhe oder etwas, woran ich mich festhalten kann. Ich bin hier verloren und allein.
Die Lippen der Frau bewegen sich schneller und schneller. Ich versuche zu verstehen, welche Worte sie mit ihrem Mund formt, während sie mich eindringlich ansieht, doch es klappt nicht. In mir scheint es so laut zu sein, dass nichts zu mir durchdringen kann.
Ihr Gesicht verformt sich plötzlich seltsam und Schatten huschen über die Wand. Ich blinzle mehrmals, damit sie verschwinden und die Frau wieder normal aussieht, doch es wird nur noch schlimmer. Immer mehr abnormale Eindrücke prasseln auf mich ein, bis ich nicht mehr zwischen Realität und Einbildung unterscheiden kann.
Ich will weiter um mich treten und schlagen, doch sie fixieren mich am Bett. Ich bekomme kaum mit was für ein Mittel sie mir geben, während es in mir tobt, doch es dauert nicht lange, bis plötzlich all die Energie aus mir weicht. Alles dreht sich weiter, doch wird stiller. Der Krach verschwindet und ich spüre beinahe jeden einzelnen Muskel in meinem Körper, der sich widerstandlos entspannt. Mir bleibt nicht einmal mehr die Kraft meine Augen offen zu halten.

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