Chapter Twenty Eight

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Die Worte meiner Mutter hallten in meinem Kopf wider, während wir über die kleinen Kieselsteine stolperten, die unter jedem Schritt knirschten. Langsam wurde mir bewusst, dass meine Eltern Liams Tod nicht mit Absicht gemieden hatten. Sie hatten Liam vergessen, um die Wahrheit nicht annehmen zu müssen.

Es herrschte eine trübe Stille zwischen uns. Ich drückte Kyles Hand etwas fester, um sicherzugehen, dass er neben mir war. Dann blickte ich dankbar hoch und versuchte mich an einem kleinen Lächeln, bevor ich zittrig die Luft um mich herum einatmete. Es war nicht selbstverständlich, dass er neben mir diesen Weg lief.

Liam war nicht seine Angelegenheit und auch nicht sein Schmerz. Und doch hatte er sich, trotz allen Unbehagen und der mehrmaligen Frage, ob er wirklich nicht lieber im Hotel warten solle, durchgerungen, hier zu stehen.

Mit jedem Schritt wog mein Herz schwerer. Die Luft um mich herum war zum Zerreißen gespannt und gab mir nicht die Menge an Sauerstoff, die ich benötigte. Schließlich wurden die Schritte meiner Eltern langsamer, bis sie stoppten. Meine Mutter löste sich aus den Armen meines Vaters und schlug sich die Hände vor dem Mund, als ihr ein gedämpfter Schluchzer entfloh. Sie kniete sich auf den Stein, der die Erde von den Kieselsteinen trennte.

„Liam", flüsterte sie und beugte sich etwas nach vorn, um über seinen Namen auf dem kleinen Kreuz aus Holz zu streichen. Zitternd zog sie ihre Hand zurück und als sie zu meinem Vater aufsah, flossen Tränen über ihren sonst so gefassten Gesichtsausdruck. Mein Vater hockte sich neben sie und nahm ihre Hand, um sie an seine Lippen zu führen.
Es war das erste Mal, seit der Beerdigung, dass unaufhaltsam Tränen über ihre Gesichter flossen. Ich hatte es mir die letzten Monate immer wieder gewünscht. Dass sie genauso litten, wie ich es tat. Doch es zu sehen und zu spüren, brach mir mein Herz. Ich hatte meinen Bruder verloren. Aber sie hatten ihren Sohn verloren.

Es gab Zeiten, in denen ihre Firmen nicht expandierten. Zeiten, in denen sie ein kleines Baby im Arm hielten und versprachen, für immer da zu sein.
Eine kleine Träne floss meine Wange hinunter und hinterließ eine kalte Spur auf meiner Haut. Bevor sie an meinem Kinn abtropfen konnte, strich ich sie mit meinem Finger weg. Plötzlich fielen kleine Regentropfen auf meine Haut und mit zusammengekniffenen Augen starrte ich in den Himmel, an welchen Wolken aufgezogen waren.

Ich schritt etwas vor und ließ Kyles Hand los. Dann beugte ich mich zu meinen Eltern und nahm sie, so gut es diese Position zu ließ, in den Arm. „Unsere Fehler sind nicht verzeihlich", murmelte mein Vater und drückte meine Hand, die auf seiner Schulter ruhte. Auch er war den Tränen verfallen und sah dann mit leicht geöffnetem Mund und glasigen Augen zu mir.

Meine Sicht verschwamm und mit schief gelegte, Kopf, öffnete ich meinen Mund, um etwas zu erwidern. Doch kein einziges Wort verließ meine Lippen. „Es wird Zeit, kürzer zu treten", fügte meine Mutter schließlich hinzu und griff nach der Hand, die auf ihrer Schulter lag. Dann schluckte sie und sah mich aufrichtig an. „Es wird Zeit, zu akzeptieren und aus Fehlern zu lernen."

Sie stand auf, sodass meine Arme schlapp herunterfielen. Mein Vater folgte ihrer Bewegung und nahm sie in den Arm, bevor er ihr einen Kuss auf die Stirn drückte und zu mir sah. „Wir lassen euch allein."

Sie entfernten sich und Stille legte sich wie ein alter Freund um mich. Nur das Knirschen ihrer Schritte war zu vernehmen. Zum ersten Mal blickte ich auf das Grab vor mir. Ein Lächeln legte sich auf meine Lippen, als ich auf die verwelkten, weißen Rosen schaute und auf die kleinen Blüten, die in der Erde wuchsen.

„Hallo, Bruderherz." Wie es meine Mutter zuvor getan hatte, strich ich über seinen Namen. Ein Schmerz durchzog meinen gesamten Körper. Sein Name, der in das Holz graviert war, war die nächste Nähe, die ich zu ihm aufbauen konnte. Bloß sein Name und die Erde, die ihn umschlungen hatte.

Liebes Tagebuch || #Wattys2015Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt