Kapitel 30

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Als ich die Treppe hinabstieg, saßen Dad und Everett mit je einer Kaffeetasse am massiven Holztisch. Oatmeal zu ihren Füßen. Alle drei sahen genau so aus, wie ich mich fühlte. Der Hund hob träge den Kopf, als er mich erspähte. Langsam tapste er auch mich zu, als wollte er mich zu der Gruppe rufen. Ich blinzelte perplex, als mir Dad ein schwaches Lächeln schenkte. „Du warst die Letzte."

„Die Letzte?"

„Wir haben uns alle nach und nach getraut, wieder in sein Zimmer zu treten. Bis auf eine", er machte eine minimale Handbewegung, die auf mich zeigte.

Verwirrt, sah ich zwischen den beiden herum. Seine Worte lähmten mich. Hieß das etwa, dass Gwen, Mutter und alle anderen von Lucas Abschied nahmen, noch bevor ich es tat? Er hatte niemandem so viel bedeutet wie mir. Meine Gedanken waren unfair gegenüber Mutter und dem Rest meiner Familie, immerhin waren sie all die Jahre geblieben. Trotzdem überkam mich die Bitterkeit.

Fassungslos bewegte ich mich zu der Küchenzeile, am anderen Ende. Ich lehnte mich gegen den Kühlschrank und nahm mir ein paar Minuten Zeit, das alles zu verarbeiten, während mich Everetts dunkle Augen taxierten.

Er schob den Stuhl zurück und kam zu mir. Mit einem Griff an mir vorbei, hielt er die Kaffeekanne in der Hand, dessen Inhalt er sogleich in eine Tasse leerte und mir reichte. Ich bedankte mich stumm bei ihm. Sofort schlossen sich meine Lippen um den schwarzen Keramikrand. Die heiße Flüssigkeit übte etwas merkwürdig Beruhigendes auf mich aus.

Everett schnappte sich den Hund und verschwand ziemlich schnell aus dem Haus. Vermutlich um mir und meinem Vater mehr Freiraum zu geben. Und tatsächlich half es ein bisschen. Als er wieder zurückkehrte, saßen Dad und ich am Holztisch und redeten über Lucas. Dabei hielten wir die ganze Zeit über, die Hand des jeweils anderen fest. Es gab so viel zu erzählen und so wenig Zeit um es auf einen einzigen Tag zu beschränken. Da wir wieder zueinander gefunden hatten, konnten wir unsere Gespräche über eine Zeitspanne verteilen.

Nach dem gemeinsamen Abendessen, schlurfte Dad wieder zurück in sein Büro. Er sah nicht mehr so erschöpft und niedergeschlagen aus. Viel mehr, kam es mir so rüber, als wäre er durchaus zufrieden. Ohne Zwang, versuchten wir wieder etwas Normalität in unser Chaos von Leben, zu bringen.

Everett tätschelte meinen Arm und führte mich und Oatmeal in den Garten, wo wir es uns, auf dem sauber gemähten Gras, gemütlich machten.

„Die Dame", er hielt mit einen Ohrstöpsel hin, den ich nur allzu gerne annahm.

Ich fühlte mich wieder, wie ein Teenager. Wir legten uns in entgegengesetzten Richtungen und hörten einen Song nach dem anderen, während die warme Sommerluft um unsere Körper wehte. Manchmal war ein Lieblingslied seiner Mutter dabei, kurz darauf spielten wir Lucas Playlist durch, bis wir bei unserer eigenen Auswahl ankamen.

Unwillkürlich dachte ich daran, wie anders mein Leben doch verlaufen wäre, wenn ich ihn nie verlassen hätte. Unsere Fingerspitzen berührten sich, während sich John Mayers Stimme, aus unserer Playlist, Gehör verschaffte.

„Woran denkst du gerade?" Fragte ich zögerlich und setzte mich auf.

Ein Lächeln umspielte Everetts Lippen. „Daran, wie ich für immer in diesem Augenblick festhängen möchte. Woran denkst du?"

Der frische Pfefferminzatem, drang zu mir durch, als sich auch Everett aufsetzte. Über uns raschelten die dicht belaubten Bäume, während Oatmeal irgendwo dazwischen umhertobte. Ich erwiderte Everetts Lächeln. „Dasselbe."

Ich wurde je abgelenkt, als sich ein kleiner, leuchtender Punkt neben Everett aufmachte. Dann waren es plötzlich zwei. Kurz darauf fünf stecknadelgroße Punkte, die an uns vorbeischwirrten. „Sie fliegen in den Wald", stellte ich nüchtern fest. Sofort hörte ich Oatmeal nach den Glühwürmchen schnappen. Dieser dumme Hund, dachte doch allen Ernstes, er könne Insekten fressen. Lachend, wendete ich mich wieder zu Everett der bereits aufgesprungen war.

„Komm", er hielt mir die Hand hin. Und als ich nach ihr griff, zog er mich mit so einer Leichtigkeit auf die Beine, dass ich nach hinten taumelte. „Hab dich. Keine Angst."

Über die Schulter blickend, vergewisserte ich mich, dass im Haus alles in Ordnung war. Nickend, drehte ich mich wieder zu Everett der mich sanft am Handgelenk gepackt hatte und Richtung Wald führte. Es war so surreal, beinahe hatte ich das Gefühl, dass uns die Glühwürmchen den Weg wiesen. Aber das konnte natürlich nicht sein, immerhin waren wir hier in keinem Disneyfilm. Nicht weit von dem Haus entfernt, kamen wir auf eine wundervolle Lichtung, auf der es nur so glänzte und strahlte.

Der dunkelviolette Himmel bildete einen krassen Kontrast, zu den Käfern und der zartgrünen Wiese. Ich hätte am liebsten meine Staffelei, direkt hier aufgebaut, um diesen Augenblick für immer festzuhalten.

Everett hinter mir gelassen, lief ich immer weiter voran, den Hund zu meiner Linken. Als ich mich umdrehte, stand Everett immer noch im Schatten der Bäume. Ich lief zu ihm zurück. „Was ist los?" Wollte ich von ihm wissen, aber er schüttelte bloß den Kopf.

Mit einer sanften Bewegung, strich er mir ein paar lose Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ich war so überrascht, dass ich instinktiv zurückweichen wollte. Ermahnte mich jedoch, stehen zu bleiben. Seine Berührung hinterließ ein scharfes Ziehen an der Stelle. „Du bist so wunderschön, weißt du das?"

Ich schluckte meine Worte herunter, unfähig etwas zu erwidern. Meine Stimme würde brechen, wenn ich auch nur einen Satz hervorbrachte. Daher nickte ich bloß und trieb meinen Körper an, näher an seinen zukommen.

„Das ist keine gute Idee", hauchte ich, mehr zu mir selber. Meine Stimme glich einem Flügelschlag. „Wir sollten nicht..."

Uns trennten nur wenige Millimeter voneinander. Seine Unterlippe berührte meine kaum merklich. Dann, ohne große Vorwarnung, drückten sich unsere Lippen, in einem intensiven Gefecht, aufeinander. Ich wusste nicht, wie sehr ich mich nach ihm sehnte, bis ich den vertrauten Geschmack auf meiner Zunge wahrnahm. Seine Hände glitten über meine nackten Arme, ehe er mich näher an sich zog. Mit einem Ruck, zog er meinen Kopf in den Nacken, während ich meine Hände in seinen dunklen Haaren vergrub. Erwartungsvolle Schauer kribbelten über meine Haut, als seine Zunge fordernd in meinen Mund drang. Mit Entschlossenheit, packte ich ihn am Hemd und drückte ihn gegen einen nahestehenden Baum, während ich seine Muskeln entlangfuhr.

„Das sollte für heute reichen", keuchte Everett atemlos. „Es wird dunkel."

Ich spürte sein Grinsen, an meinem Hals. Langsam lösten wir uns voneinander.

Wir standen noch eine Weile da, blickten uns bloß an und grinsten wie alberne Teenager, ehe wir die Lichtung verließen.

Er verstand mich wie kein anderer. Trotz unserer Tiefen, wussten wir was im jeweils anderen tobte. Wir litten nicht mehr alleine vor uns hin und halfen einander den Schmerz zu bewältigen, der uns die Jahre über gepeinigt hatte. Gemeinsam blickten wir nach vorne, um nicht zu sehr in der Vergangenheit festzuhängen. Trotzdem erlaubten wir uns jeden Abend, bevor Everett nach Hause fuhr einen kurzen Moment des Erinnerns. Wir saßen Rücken an Rücken im Garten, je einen Kopfhörer im Ohr und hörten eine kleine Auswahl an Songs unserer Geliebten. Und jeden Abend, ehe er ging, da fragte er mich „Geht es dir gut, Olivia?"

Und ich küsste ihn.

Dieses Mal sollte es anders sein.

Ich war bei ihm. Und er war bei mir. 

Out Loud - Wer immer du bistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt