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2015

„Hi, Mike!", sagte ich grinsend und gab dem Jungen ein High Five. Er erwiderte mein Grinsen breit, war so fröhlich wie eh und je. „Wo hast du meinen Bruder versteckt, hm?"

„Alex holt seine Tasche."

„Du sollst nicht alleine an die Tür gehen", erklang auch schon die tiefe Stimme seines älteren Bruders. Er kam zu der Haustür des Einfamilienhauses und lehnte sich an den Türrahmen. „Wolltest du nicht schon vor einer Stunde hier sein?", fragte er mich.

Kilian war ein ziemlich kühler Kerl. Mit seinen ein Meter neunzig überragte er mich fast zwei Köpfe. Er trug ständig eine Cap auf seinem Kopf, hatte seine Hosen locker auf seiner Hüfte sitzen und ebenso lockere Oberteile an. Man konnte nicht behaupten, dass dieser Junge optisch irgendwas bei den Mädchen reißen wollte, dennoch wurde er in der Schule angehimmelt. Als Klassensprecher der Parallelklasse und mit seinem Freund, der Klassensprecher in meiner Klasse war, gehörten beide zu den beliebten Jungen der Jahrgangsstufe.

„Mir ist was dazwischen gekommen", behauptete ich und zuckte mit den Schultern. Ich konnte ihm keine Informationen geben, ihm nicht erzählen, was Zuhause los war. Niemand wusste etwas darüber.

Kilian und ich kannten uns schon ein paar Jahre vom Sehen. Wir hatten nicht besonders viel miteinander zu tun und es war mehr Zufall, dass wir sogar jetzt noch täglich aufeinandertrafen. Sein jüngerer Bruder und meiner waren zusammen in den Kindergarten gegangen. Dort hatte ich Kilian das erste Mal getroffen und war ihm bei der Bring- oder Abholsituation mehrere Male über den Weg gelaufen. Miteinander gesprochen hatten wir allerdings nicht.

Alexander und Mike waren schließlich auf derselben Grundschule angenommen worden und gingen in die gleiche Klasse, waren Sitznachbarn und noch immer die besten Freunde. Mein Bruder hatte sein Leben behalten und lebte seine Kindheit aus, zumindest bei anderen, denn nach Hause hatte er noch nie jemanden mitbringen können. Wir ließen niemanden zu uns kommen, um unser Geheimnis bewahren zu können.

„Ti!", rief mein Bruder gutgelaunt und rannte an Kilian und Mike vorbei. Der achtjährige schlang seine Arme um meinen Bauch und drückte sich an meinen Bauch. Mittlerweile reichte er mit seinem Kopf an meine Brust und ich war mir sicher, er würde als Jugendlicher sehr groß sein. In der Hinsicht kam er ganz nach unserem Vater. Alexander hatte viel von ihm bekommen. Schokobraune Locken, schmale Lippen und einen starken Charakter. Die hellblauen Augen hatten wir beide von unserem Vater bekommen.

„Du bist ja gut drauf, Großer. Hattest du viel Spaß?"

„Ja! Und Diane hat gesagt, ich darf nächstes Wochenende mit in den Zoo gehen!", gab er noch wesentlich fröhlicher von sich. Ich liebte diesen Jungen sehr. Er erinnerte mich jeden Tag an unseren Vater, was den Kummer nicht einfacher machte, aber mit seiner Art zauberte er mir immer ein Lächeln in das Gesicht. Es tat gut und half mir, jeden Tag aus dem Bett aufzustehen und die vielen Stunden rumzubekommen.

„Das ist ja toll", antwortete ich, während ich gleichzeitig überlegte, woher ich das Geld für so einen Besuch nehmen sollte. Wir hatten nichts, mussten mit den letzten Euros auskommen und uns davon Lebensmittel besorgen. Ich hoffte, dass ich an Geld rankam, um ihm das Wochenende nicht kaputt machen zu müssen. Er freute sich so sehr.

„Dann lass uns nach Hause gehen. Du siehst Mike ja morgen in der Schule wieder."

Alexander drehte sich gleich zu seinem Freund um und strahlte diesen an. Es war wirklich schön mit anzusehen, wie viel Kind in ihm geblieben war, obwohl wir in einer furchtbaren Situation steckten. Ich konnte wohl Stolz empfinden, wenn ich ihn ansah, denn der kleine Junge war mein Verdienst.

Kilian und ich schauten einander in die Augen. Ich wusste nicht, wie viel er ahnte oder ob er überhaupt etwas ahnte. Bisher konnten Alexander und ich froh sein, dass nichts passiert war, doch so langsam schien es für uns eng zu werden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man mir meinen Bruder wegnehmen und ihn in eine Pflegefamilie stecken würde.

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