Unvorhergesehenes Vorhergesehenes

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Mit klopfendem Herzen stand ich vor dem neuen Gebäude der Yuei, genau dem, welches extra für mich errichtet worden war. So richtig Sinn machte das für mich noch immer nicht. So ein Riesenaufwand, nur damit ein Geschichtslehrer sich austoben konnte. Wie in aller Welt hatte Nezu die ägyptischen Behörden zu diesem Wahnwitz überreden können? Normalerweise waren die nämlich, zu meiner Freude, sehr streng, wenn es darum ging, dass Fundstücke das Land verließe, geschweige denn gleich ein ganzes Stück Grabungsstätte! Allein, was dabei alles hätte kaputtgehen können! Da bekam man ja Bauchschmerzen. Von dem ganzen Aufwand und den Kosten, um all das hierherzuschaffen, ganz zu schweigen. Es war einfach nur absurd! Wie war Nezu überhaupt auf eine so abgedrehte Idee gekommen? Hatte ihm niemand gesagt, dass das völlig wahnsinnig war? Kein normal denkender Mensch hätte sich das ausdenken können. Und doch stand ich jetzt hier, den Schlüssel zu dem kleinen Gebäude in der Hand und konnte nicht einmal leugnen, dass ich mich tierisch darauf freute, hier meine Zeit ausgiebig zu verplempern. Auch wenn es nur eine abgespeckte Version dessen war, was ich in Ägypten vorgefunden hatte, war es doch weit mehr, als ich jemals für möglich gehalten hätte, und ich wollte verdammt sein, wenn ich die Chance nicht nutzte! Ich brannte darauf, mich völlig in dieser Arbeit zu versenken und herauszufinden, welche Geheimnisse dieses Stück Boden preisgeben würde. Vor lauter Aufregung zitterten meine Finger sogar, als ich den Schlüssel in meiner Hand ungläubig betrachtete. Für die meisten Leute wäre wohl kaum nachfühlbar, wieso mich ein großer Haufen Erde so dermaßen glücklich machte. Sogar in meinem Kopf klang das ein bisschen so, als hätte ich amtlich einen an der Klatsche.
Wieso genau man hier so scharf darauf gewesen war, ausgerechnet mich einzustellen, war mir immer sowieso noch ein Rätsel. Selbst wenn ich eine bekannte Koryphäe in meinem Gebiet war, machte mich das noch lange nicht zu einer guten Lehrerin und jeder vernünftige Mensch hätte eine entsprechend studierte Lehrkraft einer Ägyptologin vorgezogen, um die Helden der Zukunft auszubilden. Dennoch war die Stelle mir angeboten worden, offenbar sogar schon vor dem Angriff. Wenn es bei alledem nur um meine Sicherheit ging, hätte sich das sicher auch anders formulieren lassen können. Ich wüsste wirklich gerne, was sich der Direktor der Yuei dabei gedacht hatte. Obendrein hatte Nezu einen so dermaßen ausufernden Aufwand betrieben, um mir dieses ominöse Grabungsgebäude hier hinzustellen, dass es fast so rüberkam, als wäre es schier unmöglich, jemanden für diesen Job aufzutreiben. Das konnte ich mir allerdings beim besten Willen nicht vorstellen. Zweifellos würden sich so einige Historiker und Geschichtslehrer darum reißen, eine Stelle an der Yuei zu bekommen, und das nicht nur wegen des wirklich großzügigen Gehalts, das die Schule ihren Dozenten bot. Verdammt, es gab vermutlich genug Leute, für die das hier ein absoluter Traumjob war.
Meiner war es hingegen nicht, aber angesichts meiner Situation hatte ich auch keine groß Wahl gehabt. Ich hing an meinem Leben, sowohl an meinem alten als auch an dem neuen, das ich führte, seit ich von einem Tag auf den anderen in diese Realität gestolpert war, in der sich immerhin einer meiner sehnlichsten Träume mir nichts dir nichts erfüllt hatte. Ich war plötzlich als Ägyptologin und obendrein auch noch auf einer Grabungsstätte in Ägypten aufgewacht, ein wahr gewordener Traum! Obwohl ich nicht einmal einen Tag dort verbracht hatte, wünschte ich mich bereits dorthin zurück und sehnte mich nach der heißen Wüstenluft. Aber fürs Erste würde ich wohl damit vorliebnehmen müssen, mich an diesen Job zu gewöhnen. Zumindest so lange, wie jeder um mich herum davon ausging, dass ich wegen meines Fundes in Ägypten in Gefahr schwebte. Ganz offensichtlich stimmte das ja auch, immerhin hatte Kurogiri die Grabungsstätte angegriffen und so, wie ich ihn einschätzte, handelte er kaum aus einer Laune heraus, sondern vielmehr auf Anweisung All for One's hin. Der mysteriöse Schurke hatte obendrein nach mir gesucht, nicht nach meinen Kollegen. Sein Ziel war also eindeutig. Nicht unbedingt ein beruhigender Gedanke, aber er war es, der mich überhaupt erst überzeugt hatte, als Lehrer an die Yuei zu kommen, statt weiter meinen Traum zu leben.

Mit einem leisen Klicken drehte ich den Schlüssel im Schloss herum und schob schließlich die Tür auf. Den Lichtschalter direkt daneben an der Wand hatte ich schnell gefunden. Binnen eines Augenblicks erhellten die Deckenlampe einen kleinen Eingangsbereich, von dem zwei Türen abzweigten. Die erste war eine Holztür, an der ein WC-Schild angebracht war. Viel spannender war da eindeutig die zweite. Durch die doppelflüglige Glastür konnte ich bereits in den großen Innenraum schauen. Die großen Fenster, welche ich bereits beim Blick aus dem Schulgebäude heraus bemerkt hatte, ließen viel Licht herein und offenbarten zu meinem Erstaunen tatsächlich eine sandige Ebene. „Wow", entfuhr es mir geflüstert, als ich die Tür vorsichtig aufschob, um einzutreten und alles genauer in Augenschein zu nehmen. Von draußen hatte ich ja schon das Gefühl gehabt, dass mich etwas Beeindruckendes erwartete, aber jetzt war ich schlicht überwältigt. Nicht nur die schiere Größe dieses Stückchen Ägyptens, sondern auch die ganze Atmosphäre war noch viel unglaublicher, als ich es erwartet hätte. Staunend schob ich mich in den Raum hinein und wagte einen Blick umher. In einer Ecke standen einige Tische bereit, auf ihm mehrere Gerätschaften und Boxen. Daneben erhob sich ein Regal, vollgestellt mit Büchern. Diese kleine Arbeitsecke war durch eine Glaswand von der Sandfläche abgetrennt, die fast den gesamten Raum einnahm, sah man von einem kaum einen Meter breiten Rand ab, der um die Fläche herumführte. Mehrere Bereiche im Sand waren abgesteckt worden, sodass es fast so aussah, wie in der ägyptischen Ausgrabungsstätte, mit dem kleinen Unterschied, dass hier noch nicht gegraben worden war und niemand außer mir es tun würde.
Andächtig umrundete ich die improvisierte Grabungsstelle. Wusste der Himmel, wie Nezu das hinbekommen hatte, aber auf den ersten Blick sah des wirklich aus, als habe er ein Stückchen Ägypten hierher gebracht. Selbst, wenn alles nur Schein war, berührte mich die Geste dahinter nun doch mehr, als ich zunächst gedacht hätte. So absurd und hoffnungslos übertrieben mir auch jetzt noch all das hier erschien, wusste ich doch zu schätzen, dass man mir dieses unglaubliche Geschenk gemacht hatte. Wem sonst sollte es auch gelten? Wer sich nicht für Archäologie interessierte, würde hieran wohl kaum Freude finden. Im Stillen nahm ich mir vor, mich morgen noch einmal ausgiebig bei Nezu zu bedanken, sofern ich das U. S. J. überlebte. Ich könnte schwören, es roch sogar ein bisschen wie auf der Grabungsstätte! Später müsste ich unbedingt noch meine Kollegen in Ägypten anrufen und ihnen Fotos von hier schicken! Sie würden staunen! Vielleicht könnten sie mir sogar etwas darüber erzählen, was für Fundstücke in der Nähe dieses Fleckchens ägyptischer Erde gefunden worden waren. Das gäbe mir einen Hinweis darauf, was ich hier erwarten könnte. Tonscherben vielleicht? Womöglich kleine Statuetten, Amulette oder Überreste einer Kochstelle? Werkzeuge waren auch denkbar, wenn die Grabung in der Nähe von Gräbern stattfand.
Begeistert und völlig in diese Gedanken versuchen, machte ich mich daran, die Unterlagen zu überfliegen, die auf dem Schreibtisch bereitlagen und mir bereit allerlei Details über diesen gigantischen Import-Sandhaufen verrieten. Sogar eine Karte lag dabei, auf der ich entnehmen konnte, woher genau meine außergewöhnliche Ausgrabungsstelle stammte. Am besten, grübelte ich über der Karte, unterteilte ich erst einmal alles in einzelne Abschnitte. Meine Kollegen hatten markiert, wo sie auf dem Areal bereits etwas entdeckt hatte, ohne wirklich danach graben zu müssen. Dabei handelte es sich um eine zerbrochene Schale mit kleinen Markierungen, die durch die Jahrhunderte im Sand fast bis zur Unkenntlichkeit verblasst waren, aber noch immer ahnen ließen, wie farbenfroh und schön sie einst gewesen sein mussten. Angesichts dessen handelte es sich vermutlich um eine Opferschale, die einem wohlhabenden Menschen gehört haben musste. Aufgeregt schnappte ich mir ein dünnes Hanfseil und mehrere kleine Holzpflöcke, die ich vorhin schon in einer Holzkiste neben dem Grabungsareal entdeckt hatte. Wer immer all das hier vorbereitet hatte, hatte an alles gedacht!

Together through timeless justice (Pausiert)Where stories live. Discover now