Spiegel

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Was wussten wir schon?
Alles?
‚,Stadt, Land, Fluss'' hat mir schon immer Spaß gemacht. ,,Wer bin ich?'' hingegen weniger.
Bei Stadt, Land, Fluss ging es nur um Interesse an der Sprache, Allgemeinwissen und unnützes, angeeignetes Wissen.
Zwar war ich bescheiden, aber ich würde trotzdem zugeben, dass ich in sowas ziemlich gut war. Darin, mir unnützes Wissen anzueignen.

Eigentlich hatte es mir immer Spaß gemacht, im Internet zu surfen, mir zufällige Wikipedia Artikel durchzulesen und sie am darauffolgenden Tag meinem Freund Tore, welcher vor zwei Jahren nach Kirkenes, irgendwo an der Grenze von Russland und Norwegen, zog, zu erzählen.
Naja, jetzt tat ich das nicht mehr.
Zeiten hatten sich geändert. Je älter ich wurde, desto unbedeutender wurde die Zeit. Damals haben sich noch meine Eltern darum gekümmert, wie ich meine Zeit verbrachte und wie ich sie mir einteile, aber nun war ich alt genug, meinen Zeitplan selbst zu strukturieren.
Zumindest war das meine Ausrede, die ich nicht nur anderen, sondern auch mir selbst einredete.
Ich wusste ganz genau, dass alles an der Scheidung meiner Eltern lag. Ich wollte nicht länger mit ihnen Zeit verbringen, da zwischen uns immer eine unangenehme Stimmung war.

Manchmal fühlte es sich so an, als wäre ich ein Krieg.
Der Konflikt und die Grenze zwischen zwei Ländern, der den unglaublichen Schaden verursacht.
Das Paradoxon, das die beiden verbindet, aber auch auseinander reißt.
Aber das würde ich niemandem erzählen.

Das einzig schwierige an Stadt, Land, Fluss war es, sich einen Beruf auszudenken, der nicht mit Züchter endete, was sich manchmal als komplizierter herausstellte, als gedacht.
Wer bin ich? war aber tausend mal schlimmer gewesen.
Was bedeutete ,,wer bin ich?'' überhaupt? Wir taten immer so, als wüssten wir alles. Als kannten wir unser eigenes Umfeld, fremde Menschen und Charaktere, die in Wirklichkeit nicht einmal existierten.
Wir taten so, als wüssten wir alles, obwohl wir uns niemals versichern konnten, dass wir uns selbst überhaupt kannten.
Wir schauten in den Spiegel, als wäre es nichts.
Obwohl dein Spiegelbild das einzige ist, was dir immer die Wahrheit sagen wird.
Eltern und Lehrer predigten einem immer, dass die Wahrheit alles war, dabei konnten sie nicht einmal mit ihrem eigenen Spiegelbild im Reinen sein.

Ich weiß nicht, wann ich aufgehört habe, zuzuhören, aber irgendwann tat ich es.

Wie ehrlich konnten wir zu uns selbst sein, wenn wir alleine waren?
Manchmal versuchte ich herauszufinden, was Ehrlichkeit und Wahrheit bedeutete.
Das Gefühl von Leere? Schließlich sollten Lügen eine Last auf den Schultern sein. Und das waren sie.
Denn jedesmal, wenn ich meinen Eltern erzählte, ich habe keinen Hunger, fühlte ich mich schlecht.
Und wenn ich Tore erzählte, irgendwann würde ich ihn besuchen kommen, fühlte ich mich noch schlechter.
Und immer wenn ich mit ,,Mir geht's gut'' antwortete, fühlte ich mich am schlechtesten.

Und wenn ich es mir recht überlegte, war die Wahrheit doch nicht alles.
Die Lügen, die ich Tag für Tag erzählte, die Lügen, die ich niemals aufhören werde zu erzählen, die Lügen, die die Anderen niemals aufhören werden zu erzählen, waren wunderschön.
„Ihm ging es gut." würden sie alle sagen.
Das Gefühl von Sicherheit und Freude, das in ihrer Wirklichkeit viel zu perfekt klang, denn eigentlich war die Wahrheit hinter dieser Lüge perfide und schwach.
Und wenn ich es mir recht überlegte, war unser Spiegelbild doch nicht die Wahrheit.
Als ich auf mein Handy schaute, sah ich so traurig aus.
Tränen strömten mir über meine Wangen, meine Augen waren rot, mein Mund zitterte.
Aber alles war okay.
Ich war nicht traurig. Da war nichts. Nur ich, die Klippe, das Meer und die salzige Luft.
Ich war glücklich. Denn zum ersten Mal schien es okay zu sein, Nichts zu sein.
Zum ersten mal schien es in Ordnung zu sein, Ich zu sein.
Mura zu sein.
Mensch zu sein und nicht alles zu wissen.
Als müsste ich mich nicht verstellen und als müsste mir niemand etwas vormachen. Plötzlich waren Lügen in Ordnung. Denn eigentlich waren wir alles Lügner oder zumindest Menschen, die nicht die Wahrheit sagten.
Keine schlaflosen Nächte mehr, in denen ich mich fragen musste, wer ich war.
,,hdl mama''. Meine Finger drückten auf Senden. Etwas, was ich häufig schrieb und das einzige, was von mir übrig blieb, das letzte, das meiner Mutter übrig blieb.
„Hab dich lieb, Mama."
All die Last flog von meinen Schultern, als ich dieses kleine Stück Wahrheit in den umtosenden Wind hauchte, das Wasser meine Tränen wegwischte und meine Gedanken das einzige waren, was mir noch blieb.
Ich hörte nichts, alles war tonlos und dumpf, das Meer saugte mich gierig auf.
Nur wer genau hinhörte, konnte den flüsternden Wind hören, wie er das Unausgesprochene aussprach.
Die Wahrheit aller, die an meiner Stelle standen.
Nur wer genau hinschaute, konnte die Gesichter jener sehen, dessen Masken tief auf den Meeresgrund sanken.

Wie schäbig ich ausgesehen haben muss, als ich keine Maske trug.
Wer war ich?
Wer waren wir?
Was wussten wir schon?
Nichts?

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