Geheimnisse

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Ich hätte mir wohl denken können, dass es naiv war, zu hoffen, nach allem, was passiert war, einfach nach Hause gehen und entspannen zu dürfen. Daraus wurde nämlich ganz gepflegt nichts. Stattdessen saß ich nur wenige Minuten später auf der Rückbank eines Polizeiautos und war auf dem Weg zum Präsidium, wo man meine Aussage aufnehmen wollte. Es war mir kein Trost, dass es meinen Schülern nicht anders erging. Bei den Profihelden war ich nicht sicher, wie so etwas ablief, aber ich würde drauf wetten, dass selbst die Auskunft geben mussten. Allerdings ginge das wohl deutlich schneller. Nicht nur, dass die Helden erst später dazugekommen waren, sie wären bestimmt auch viel ruhiger bei ihren Aussagen. Klasse 1-A und ich waren heute zum ersten Mal in einer solchen Situation und es wäre wohl eher verwunderlich, wenn einer von uns das einfach wegstecken könnte, als wäre nichts geschehen. Die Ereignisse heute hatten die meisten von uns ohne Vorwarnung getroffen, aber selbst mit Erenyas und meinem Vorwissen war der Angriff auf das U. S. J. kein Spaziergang gewesen. Ich wünschte, ich hätte mich um den Besuch des U. S. J. drücken können oder wenigstens, wie geplant, die Flucht ins Damenklo geschafft, aber die Ereignisse hatten sich derart überschlagen, dass mir das nicht rechtzeitig gelungen war. Mir war sowieso schleierhaft, wieso der Direktor meinte, dass eine Archäologin wie ich hatte mitkommen sollen. Was erhoffte er sich davon? War ja nicht so, als könnte ich irgendetwas zum Thema Katastrophenhilfe beitragen, geschweige denn zu den Prioritäten dabei. Dass an mir keine Heldin verloren gegangen war, hatte der heutige Tag wohl ziemlich deutlich bewiesen. Meine Knie fühlten sich immer noch an wie Pudding, wenn ich daran zurückdachte, wie auf einmal die Schurkenliga eingefallen war. Auf die Erfahrung hätte ich getrost verzichten können.
Und nicht nur ich, auch Erenya. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, sich einzumischen? Viel zu gefährlich, fast schon suizidal! Außerdem musste ihr doch klar sein, welch immense Risiken es barg, wenn eine von uns die vorherbestimmten Ereignisse durcheinanderbrachte. An ihren guten Absichten zweifelte ich nicht, aber durchaus daran, dass sie gut durchdacht waren. Theoretisch könnte jede noch so winzige Einmischung dafür sorgen, dass AFO Deku als Träger von OFA erkannte und tötete. Oh, Eri, erst denken, dann handeln! Die besten Absichten führten bekanntlich oft genug zu den schlimmsten Folgen und besonders bei Einmischung in das Gefüge der Zeit war ich mir dessen sogar ziemlich sicher. Mal ganz abgesehen von den möglichen Veränderungen, die unsere Einmischungen für diese Welt bedeuten konnte, mussten wir uns fragen, ob nicht noch etwas viel Größeres auf dem Spiel stand. Da wir nicht wussten, wie genau Zeit funktionierte – und ich konnte mir das vermutlich nicht einmal vorstellen – könnten wir versehentlich weitere Zeitlinien abzweigen, Zeitschleifen erschaffen, die Realität spalten oder sie sogar zerstören. Durften wir hier überhaupt existieren? Wenn ja, wieso gab es uns im Manga nicht, und wenn nein, wieso nahmen dann alle hier uns als schon lange bestehenden Teil dieser Welt wahr? Schon darüber nachzudenken machte mir Angst. Alles, was wir taten, hatte Folgen. Jeder Schritt, jede Geste, jedes Wort, jeder Kontakt zu unseren Mitschülern oder Kollegen, zu Fremden im Supermarkt oder unseren Familien. Meine kannte ich zwar noch nicht, aber für Eri musste es befremdlich sein, bei fremden Leuten zu leben, die sie behandelten wie ihre Tochter. Merkten ihre Eltern womöglich, dass etwas nicht stimmten oder schoben sie das auf die Pubertät?

Seufzend rieb ich mir über die Schläfen. Egal, wie viel ich darüber grübelte, ich würde ja doch keine Antworten finden. Wie auch? Was wusste ich schon von Reisen durch Dimensionen oder was auch immer Erenya und mir hier widerfahren war. Ich bezweifelte sehr, dass es überhaupt irgendjemanden gab, der das erklären konnte, geschweige denn wüsste, wie man es umkehrte, nicht einmal der seltsame Kerl, den ich während des Angriffs gesehen hatte. Irgendwie hatte er die Zeit angehalten und aus irgendeinem Grund wusste er, wie die Geschehnisse ursprünglich hätten ablaufen müssen. Sonst hätte er wohl diese Korrekturen nicht vorgenommen. Waren ihm Erenya und ich noch nicht aufgefallen? Selbst wenn, würde ich nicht darauf wetten, dass das so blieb. Wie würde dieser Kerl reagieren, wenn er bemerkte, wer wir waren oder vielmehr nicht waren? Das hing wohl maßgeblich davon ab, wer dieser Zeitreisende war. Dass er aus der Zukunft kam, war offensichtlich, aber sonst wusste ich gar nichts über ihn. Hätte er noch einen Schallschraubenzieher dabei gehabt, könnte ich ihn glatt Dr. Who taufen, doch so taufte ich den Mann im Stillen erst einmal Tardis. Das passte besser, denn zweifellos war das Zeitreisen sein Quirk und nicht die Fähigkeit einer Maschine, die er lediglich bediente. Das machte ihn eher zur Tardis als zum Doktor. Schade, dass ich den Witz wohl mit niemandem würde teilen können, immerhin schien keiner außer mir Tardis bemerkt zu haben.
Ob er zu der Zeit, in der ich mich befand, bereits gelebt hatte? Oder kam er noch weiter aus der Zukunft? Agierte er womöglich im Namen der Helden? Dass er für All for One arbeitete, glaubte ich zwar nicht wirklich, aber ausschließen konnte ich es auch noch nicht. Wer wusste schon, worauf Tardis hinarbeitete. Angesichts der beunruhigenden Tatsache, dass niemand ihn bemerkt zu haben oder sich an ihn zu erinnern schien, könnte er schon dutzend Ereignisse verändert haben, ohne dass es jemals irgendjemand erfuhr. Objektiv betrachtet besaß er damit den vielleicht stärksten Quirk, den es gab. Nicht auszudenken, was geschähe, wenn AFO davon erfuhr und ihn sich unter den Nagel riss. Er könnte binnen eines einzigen Augenblicks das Geschick der Welt völlig verändern, große Helden stürzen und grausamen Schurken die Mittel an die Hand geben, um die Gesellschaft in Chaos zu stürzen. Und das war noch ohne all die unabsehbaren Zeitgefügerisiken gedacht, die damit womöglich einhergingen. Dagegen war der OFA-Quirk ein Witz. Aber welcher Quirk wäre das nicht? Umso wichtiger, dass er nicht in die falschen Hände geriet. Hoffentlich war Tardis sich der Verantwortung als Wächter dieser mächtigen Fähigkeit bewusst, sonst ginge diese Welt schneller den Bach runter, als jemand „Stop" brüllen konnte. Wenn ich Tardis bemerken und mich in seinem Zeitstillstand bewegen konnte, lag es nahe, dass auch andere Leute dazu fähig waren. Ich sollte online mal danach suchen, nahm ich mir im Stillen vor, verschob diesen Plan aber gleichzeitig auf heute Abend oder vielleicht besser morgen früh, wenn ich mich weniger fühlte, als habe mich ein Zwölftonner überrollt. Zweimal.

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⏰ Last updated: Jun 26, 2022 ⏰

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