In Your Embrace (One Shot)

64 9 2
                                    

Wie es wohl wäre, dich zu küssen?


Die Frage taucht unvermittelt in meinem Kopf auf und hallt dort wie ein mal an-, mal abschwellendes Echo wider. Sie verschluckt jeden anderen, möglichen Gedanken, außer denen, die mich fragen, ob es denn möglich sei. Seine Lippen sind von meinen nicht weit entfernt, ich müsste nur meinen Kopf ein Stück drehen, mich ein wenig auf die Zehenspitzen stellen. Aber gleichzeitig scheint es eine unüberbrückbare Distanz zwischen uns zu geben. Noch während ich seine Wangen ansehe, jenes störrische Barthaar, das sich wohl nur ungern rasieren lässt, seine für einen Mann sehr ebenmäßige Haut, wird mir bewusst, dass ich genau das nie tun werde, dass ich mich nie strecken werde, um seine Lippen mit meinen zu berühren, um zu spüren, wie sie sich anfühlten. Es versetzt mir einen Stich.


Du hast mich einmal gefragt, was ich mir wünschte. Damals hatte ich Angst davor, dir dieses eine Wort zu sagen: dich.


Der Ballsaal, eigentlich ein Theatersaal, den man für den heutigen Abend umfunktionierte, ist wunderschön geschmückt. Große blassgrüne und silberne Luftballons schweben an den Seiten der Bühne, auf der Musiker spielen. Blumenkübel, die dem winterlichen Ambiente trotzen, stehen davor; an ihnen sind die Schnüre der Luftballons befestigt. Kerzen, deren Schein von den Wasserkaraffen reflektiert wird, flackern auf den Tischen. Wir stehen in der Mitte der Tanzfläche, warten gespannt darauf, welchen Tanz sie als nächstes spielen werden. Vorsichtig zupfe ich an meiner Frisur herum. Mein Haar ist unzähligen Locken gedreht, die kunstvoll hochgesteckt wurden. Mutter belächelte es, dass ich zwei Stunden lang beim Friseur gesessen hatte, aber ich bin mir sicher, dass auch ihr das Ergebnis gefällt. Seine Reaktion ist es auf jeden Fall wert gewesen.


Wow, hast du gesagt, als ich dir die Tür aufgemacht habe. Wow. Ich konnte nicht anders, als glücklich zu lächeln. Erst danach haben wir uns kurz umarmt und Worte der Begrüßung geäußert. Das Wow lag immer noch in der Luft, als ich dich meinen Eltern kurz vorstellte. Es war mir peinlich, schließlich sind wir nicht zusammen, du nur mein Tanzpartner und ein ganz normaler Freund. Aber ich nehme es ihnen nicht übel, schließlich haben sie mir erlaubt, mit dir zu fahren, statt mich selbst zum Ball zu bringen, obwohl draußen hoher Schnee liegt und Glatteis angekündigt ist. Dass du nur zehn Minuten von jenem Theater entfernt wohnst, für mich aber eine dreiviertel Stunde gefahren bist, hat sicherlich nichts zu bedeuten. So bist du einfach. Oder?


„Möchtest du etwas trinken?", fragt er mich und ich nicke etwas atemlos. Die Musiker haben eine Pause angekündigt und spielen nun eine Salsa, die wir beide nicht mögen. Gemeinsam bahnen wir uns einen Weg zwischen den Tanzenden hindurch. Viele Menschen sind gekommen, vielleicht gerade weil die Stadt nicht groß und der Winterball der Universität ein jährliches Großereignis ist. In dem Theater sind insgesamt vier Säle untergebracht, in jedem sind an dem Tag Tänzer und Tänzerinnen versammelt. Ein etwas in die Jahre, aber nicht aus der Übung gekommenes Orchester aus Frankreich schmettert im zweitgrößten Saal alte Chansons, im Vorraum ist eine kleinere Bühne aufgestellt, auf der eine Afrikanerin mit blondgefärbtem Haar singt. Ihr Publikum tanzt Samba oder Freestyle. Ich bin froh, dass er die Art von Tanz genauso wenig mag wie ich. Sobald wir aus der Menge herausgetreten sind, bietet er mir seinen Arm an.

„Du hast mich schon hergefahren, ich bezahle die Getränke", sage ich und möchte einen Geldschein aus meiner Abendtasche ziehen, als sein Gesichtsausdruck sich verändert. In seinen blauen Augen kann ich lesen, dass er mir nicht widersprechen möchte. Er tut es dennoch: „Das... das geht doch nicht. Es ist ja eigentlich wirklich lieb von dir, aber... das geht nicht. Ich bezahle wenigstens das erste Getränk, okay?"

In Your EmbraceWhere stories live. Discover now