Prolog

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Er atmete tief durch. Es würde das letzte Mal sein, dass er jenen, die er liebte, nah sein durfte. Als Wächter auserwählt zu werden, wurde als große Ehre empfunden. Nur selten geschah es, dass jemandem dieses Schicksal zuteilwurde. Begünstigt von den Göttern, anerkannt von den Magiern. Die Wächter waren mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet. Sie waren stärker als die anderen. Es war ihre Aufgabe, das Portal Oloruns, des Seelenbaums, zu beschützen. Von jetzt an würde es auch seine Aufgabe sein.

Die Zeremonie der Wächterernennung fand im Tempel der Kalaya in Nalia, der Hauptstadt seines Volkes, statt. Er kam nicht von hier und sah den Tempel zum ersten Mal. Mit Ehrfurcht betrachtet er das einzige steinerne Gebäude in einer Stadt aus Eis. Den Tempel schmückten unzählige Symbole und imposante Säulen stützten sein Dach. Sein Weg sollte ihn genau dorthin führen, fort von allem, das ihm etwas bedeutete.

Schweren Herzens drehte er sich um, zu seiner Familie, die ihn in die Hauptstadt begleitet hatte. Die Augen seiner Eltern blickten ihn traurig und dennoch voller Stolz an. Er umarmte beide, um sich von ihnen zu verabschieden. Dann kniete er sich zu seiner kleinen Schwester nieder: „Schhh, nicht weinen", versuchte er sie zu trösten und wischte einige Tränen aus ihrem kleinen Gesicht. Doch sie schluchzte nur noch lauter. „Ich werde dich so vermissen", weinte sie und warf sich in seine Arme. „Ich dich doch auch, ich dich doch auch", murmelte er in ihr Haar. Er drückte sie noch einmal fest und löste sich dann vorsichtig von ihr. Er richtete sich auf und wand sich Ava zu, dem Mädchen, das er heiraten wollte. Dies war nun nicht mehr möglich. Sie lächelte ihn traurig an. Es schmerzte ihn, sie zu verlassen. Er küsste sie ein letztes Mal. Dann drehte er sich eilig um und ging die Stufen zum Tempel hinauf.

Es war den Wächtern verboten, Kontakt zu jemanden aus ihrem vorherigen Leben zu haben. Er würde niemanden von ihnen je wieder sehen. Natürlich hatte das Dasein als Wächter auch Vorteile. Man erntete Ruhm und Anerkennung, wurde gut bezahlt und es standen einem alle Türen offen. Das Bedeutsamste aber war die Unsterblichkeit, die einem während der Zeremonie in Form von magischen Tätowierungen zuteilwurde. Weder Alter noch Krankheit konnten einem etwas anhaben, nur der Tod im Kampf konnte einen ereilen. Doch er wollte nichts von diesen Dingen. So ein Leben hatte er sich nie gewünscht. Seine Eltern hatten ihm gut zureden müssen, nachdem er von einem Priester entdeckt worden war und alle Prüfungen bestanden hatte. Es sei die Chance seines Lebens, hatten sie gesagt.

Nun schritt er durch das große Tor des Tempels, in ein neues Leben.

Tochter der Kalaya - Verloren zwischen Magie und SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt