Kapitel 6 - Die Hexe

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„LAUF!" Nadja packt ihren kleinen Bruder am Schlafittchen und reißt ihn auf die Beine. Seine Augen scheinen aus den Höhlen zu quellen. Er schafft es kaum sich von dem Untier abzuwenden. 

Wie ein Labrador, der mit seinem Lieblingskauknochen spielen möchte, hat das Reh den Hintern in die Höhe und die Vorderläufe nach vorne geschoben. Glücklich tippelt es mit ihnen hin und her während Sabberfäden aus dem grinsenden Wolfsmaul laufen. Sie legt es darauf an, dass wir rennen! Die Spiele haben begonnen.

Ehe ich mir einen Plan zurechtlegen kann, sprinten die Kinder in irrsinniger Geschwindigkeit los. Nun ja, für menschliche Verhältnisse. Ich hole mit einem langen Sprung auf und lassen das Monster nicht aus den Augen. Der Hinterleib verformt sich. Klauen, Krallen bilden sich aus der zuckenden dunklen Masse. Die brennenden Augen richten sich auf mich, bohren sich in meine Seele. Mit rasendem Puls drehe ich mich zu den Kindern um und sehe sie gerade noch zwischen zwei Büschen verschwinden. Mein Kopf setzt aus und die Instinkte übernehmen. Ich spüre meine Pfoten Erde und Laub aufwirbeln, als ich ihnen nachhetze. Weg, einfach nur fort!

Wir müssen Minuten gerannt sein, als ich gegen Michaels Beine pralle und mein Verstand endlich wieder einsetzt. Wir sind im tiefen Unterholz, doch etwas Mondlicht dringt durch die dichten Zweige.

„Wo sind wir? Wo müssen wir hin?" Nadia blickt verzweifelt um sich. Kein Wunder. Mit ihren menschlichen Augen werden sie in dieser Finsternis weniger wahrnehmen als ich. „Kitty? Kitty, wo bist du?"

„Mauau", antworte ich knapp. Warum sind wir noch nicht gefangen? Will sie uns jagen? Zum Spaß? Den soll sie haben! Wenn ihr das nicht mal zum Verhängnis wird. Ein Stab ihm Bauch hätte sie schon einmal fast das Leben gekostet. Wenn wir dieselbe Stelle in ihrem Körper nochmal treffen könnten ...

„Wo sind wir? Ha-haben wir e-es abgehängt? Sind wir s-sicher?" Michael sinkt keuchend auf den Boden zu Nadjas Füßen.

Dummer Junge! Ich mache mir nicht die Mühe zu antworten. Andererseits, wenn sie es gar nicht gewesen ist? Vielleicht war das Reh nur eine ihrer Zombie-Drohnen und nicht sie selbst in verwandelter Form. Dann hätten die beiden eine Chance!

„... müssen wir lang!" Der schrille Unterton in Nadjas Stimme lässt mich aufhorchen. „Kitty, Kitty! B-bitte!"

Sie ist kurz davor den Verstand zu verlieren. Ich muss sie aus dem Wald bringen. Unter Menschen. Viele Menschen. Mit Handys und Internet. Aufmerksamkeit der Massen, das Einzige, was sie aufhalten könnte. Die anderen Hexen wären nicht amüsiert, wenn sie ihr Geheimnis der Menschheit offenbaren würde. Ein neues Opfer für den Blutmond wäre dann mit Sicherheit ihr kleinstes Problem.

Kurz entschlossen husche ich an Nadja vorbei und halte die Nase in die Luft. Wir müssen Richtung Tal. Aber einfach bergab zu gehen wäre fatal. Die steile Felswand, die man hinabstürzen könnte, müssen wir unbedingt vermeiden. Birken! In dem von Tannen und anderen Nadelbäumen dominierten Wald gibt es eine Birkenschneise, durch die wir uns sicher bergab bewegen können. Verdammt! Unter dem Harzgestank nehme ich kaum wahr, woher ihr Duft zu uns herüber weht.

„Aua! Michael, lass los. Du tust mir weh!" Nadja lehnt sich seitlich weg von ihrem Bruder und versucht, ihr rechtes Bein zu sich zu ziehen.

„Ich mach doch gar nix!", erwidert das Kerlchen empört und rückt etwas von ihr ab. Im Zwielicht sehe ich, dass er die Wahrheit sagt.

„Was ..." Statt den Satz zu beenden, beginnt Nadja wild an ihrem Bein zu zerren. Es scheint verklemmt zu sein. Wahrscheinlich unter einer Wurzel. Die schwarze Schlinge, die sich um ihren Mittelfuß gewunden hat, sieht aus wie eine an die Oberfläche getretene Tannenwurzel. „Los, hilf mir!"

Schnell springt ihr Bruder auf, legt seine Ärmchen um ihren Bauch und zieht. Ohne Erfolg. Himmel! Alles muss man selber machen. Ich bin mittlerweile sicher, wo wir hinmüssen und springe schnell zu den beiden, um Nadja mit meinen starken Klauen zu befreien.

Knusper, KnusperWhere stories live. Discover now