Alles, was wir haben

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Sauron war noch nie so schnell in den Thronsaal seines Meisters in Angband gestürmt wie heute. Atemlos bleibt er stehen. Morgoth steht auf der höchste der drei Stufen zu seinem Thron und starrt mit ausdruckslosen, dunklen Augen auf ihn hinab. "Ron?" Selbst seine Stimme, wenngleich tief, dunkel und kalt wie immer, hat ihre Betonung verloren. Verzweifelt schüttelt der Maia den Kopf und verbeugt sich. "Es ist furchtbar, Meister.", berichtet er dann. "Die Truppen Valinors sind gelandet, sie... sie drängen unsere Truppen so rasch zurück... Sie... Sie werden bald hier sein." Ein Schatten fällt über Morgoths blasse Züge. Angst. "Wann?", fragt er. Abschätzend beißt Sauron sich auf die Lippen. "Ein, zwei, drei Stunden." Die Ränder von Morgoths Gestalt flackern - ein Zeichen für einen enormen Aufwall an Emotionen, ein beinaher Kontrollverlust, etwas, das Sauron bei seinem Meister noch nie gesehen hat. Der Vala streicht sich einige schwarze Strähnen aus dem Gesicht und kommt die Stufen hinab, bis er kurz vor Sauron steht. Selbst jetzt ist der abtrünnige Vala immer noch eineinhalb Köpfe größer als Sauron. Der Maia schluckt und sieht zu ihm auf. "Meister?", wispert er heiser. "Was... Was nun?" Unendlich langsam schüttelt Morgoth den Kopf, seine Kiefermuskeln sind so angespannt, dass sie sich unter der blassen Haut abzeichnen. Mit einem leisen Seufzen schließt Morgoth kurz die Augen, die vier Narben auf seinem Gesicht scheinen regelrecht zu leuchten. "Wir geben nicht auf, Ron.", erwidert der Vala dann. "Niemals.", er senkt den Kopf, blinzelt wieder und sieht Sauron an. "Nie. Selbst wenn sie uns überrennen." Er streckt eine Hand mit den schlanken, blassen Fingern aus, lässt sie an Saurons Wange ruhen, neigt sich zu dem Maia und küsst ihn. Vor Überraschung schnappt Sauron leise nach Luft. Dieser Moment... Seit tausenden von Jahren hat er darauf gewartet, sich danach gesehnt und nun... hat er es. Nun liegen Morgoths Lippen auf seinen. Sanfter, als er es erwartet hatte. Dominant, bestimmend und gleichzeitig doch sanft. Eine seltsame Kombination, aber Sauron gefällt sie und er erwidert den Kuss. "Das", Morgoth löst sich von ihm "wollte ich wenigstens einmal gemacht haben." Protestierend starrt der abtrünnige Maia seinen Meister an. "Wir werden es noch viel öfter tun können, Meister!" Der Vala lächelt. "Nein. Ich habe die Zukunft gesehen und sie ist hell." Licht? Bei Grond, nein! Sauron schluckt mühsam, wendet den Kopf ab. "Nein.", haucht er dann. "Das... kann nicht sein. Wir... Ihr seid die Dunkelheit!" "Und das Licht wird die Nacht vertreiben. Vorerst. Nicht für immer, nicht ganz. Nie.", ein Lächeln zuckt um Morgoths blasse Lippen. "Wir haben zwei Stunden, bis Valinors Truppen hier sind, Ron." Blinzelnd sieht Sauron seinen Meister an. Die vier Narben, Überbleibsel der Krallen des Adlers, stören die verbleibende Göttlichkeit in den Zügen seines Meisters nicht im geringsten. Sie stören die Klarheit seiner Züge nicht. "Es kann nicht das Ende sein, Meister. Es wird nicht das Ende sein. Die Valar... sie werden Euch nicht töten!", sagt er schließlich, sein Blick ruht immer noch sehnsüchtig auf Morgoth. Der fünfzehnte Vala senkt mit einem kleinen Lächeln das Kinn. "Wahrlich, das werden sie nicht. Aber sie werden etwas Schlimmeres tun, so, wie ich meinen Bruder kenne. Töten? Nein, das werden sie nicht. Dazu sind ihre Herzen zu rein, zu unschuldig, zu kindlich. Selbst Tulkas' - was bei ihm wirklich ein Wunder ist. Nein, töten werden sie mich nicht, da hast du recht, Ron. Vielleicht werden sie mich wieder in Mandos' Verliese sperren und mit dieser verfluchten Kette Angainor binden." "In Valinor?", fragt Sauron und etwas in seinem Kopf nimmt Gestalt an. Valinor... Sie sind hier in Mittelerde, nicht allzu weit weg von Valinor. "Ja, in Valinor.", bestätigt Morgoth und hebt eine Augenbraue. "Warum?" Unwillkürlich muss Sauron lächeln. "Valinor ist nicht allzu weit, Meister.", erklärt er. "Wenn die Valar Euch dort einsperren, so werde ich kommen und Euch befreien." Ein Moment vergeht, in dem der dunkle Vala in schweigend aus seinen tiefen Augen mustert. Dann senkt er halb die Lider und gibt zurück: "Das würdest du?" Sauron schüttelt den Kopf, aber nicht als ein Zeichen des Widerstandes. "Wer, wenn nicht ich, Meister, da Ihr mir mehr bedeutet als ganz Arda zusammen?" Morgoths Mundwinkel zucken. "Das ist Loyalität, Ron. Wahrhaftig.", er macht eine Pause. "Versprich es mir, Ron. Versprich es mir, dass du kommen und mich befreien wirst.", dunkle Flammen entzünden sich in den ebenso dunklen Augen. "Egal, wo ich bin, Ron. Egal, wo. Und wenn es die Leere wäre." Die Leere. Lautlos ringt Sauron nach Atem. Die Leere... Schon bei dem Gedanken an dieses endlose Nichts wird ihm schwindelig. Aber er nickt. "Egal, wo. Ich werde kommen." Zur Antwort nickt Morgoth sachte. "Sehr gut. Halte dich an dieses Versprechen. Denn es ist alles, was wir haben. Alles, was wir sicher wissen." Sauron blinzelt mehrmals. "Ich werde Euch nicht enttäuschen.", gelobt er leise. "Das werde ich nicht, Meister."

Es ist die Meisterdisziplin dessen, was er als Maia tun kann. Er hat seine Gestalt in Nichts aufgelöst und ist nun mit den Invasoren aus Valinor gegangen, hat hilflos mitansehen müssen, wie sie seinen Meister gefesselt haben. Der fünfzehnte Vala kauert vor Manwes Füßen am Rande Amans, dem Tor der Nacht, und starrt flehentlich zu seinem Bruder auf. "Du musst mir vergeben!", fleht er gerade. "Ich bin dein Bruder, Manwe! Bitte! Vergib mir!" Der König über Arda schüttelt den Kopf und Hass wallt in Sauron auf. "Nein. Das werde ich nicht tun, Melkor. Schon einmal begingen wir den Fehler, Gnade mit dir zu haben. Das wird sich nicht wiederholen.", wie eine Flut aus Licht macht er einen Schritt zurück und Sauron zieht hastig die Partikel seinerselbst weg, um nicht von den Strahlen getroffen zu werden. Manwe sieht zu Tulkas und Aule. "Wir werden ihn in die Leere stoßen." Wenn Sauron das in dieser Gestalt können würde, so würde er jetzt vor Entsetzen und Panik aufkeuchen. Doch das kann er nicht. Nur Morgoth schnappt leise nach Luft. "Nein! Manwe, bitte! Bitte!" Das Gesicht des weißen Valas bleibt ausdruckslos und Sauron sehnt sich danach, ihn mit seiner gesamten, finsteren Macht zu umwickeln. Das kann er nicht. Zu stark ist das Licht. Wieder kann er nichts, aber auch gar nichts tun. Nur mit ansehen, wie sie seinen Meister auf die Beine zerren und ihn zum Tor der Nacht eskortieren. Moment. Sauron, im Begriff hinter den vier Gestalten herzuschweben, hält inne. Aule hat eine Axt dabei. Warum...? Vor Angst flackert seine Gestalt, wird kurz sichtbar, mit äußerster Willenskraft löst er sich wieder auf und starrt nach unten. Hat es jemand gesehen? Nein. Doch. Morgoth. Der finstere Vala blickt zu der Stelle, an der Sauron ist. Seine dunklen Augen sind so matt und trüb, wie der abtrünnige Maia es noch nie erlebt hat und trotz seiner momentan luftigen Gestalt verkrampft sich sein Innerstes. Im nächsten Moment wird seine Aufmerksamkeit auf Aule gelenkt. Der Vala der Schmiedekunst, sein früherer Meister, tritt zu Morgoth. Hebt die Axt. Bei Grond, was-?! Der Maia kann es nicht ertragen, er kann nicht hinsehen und so wendet er sich ab. Morgoths gequälte Schmerzensschreie zerreißen die Luft genauso wie Saurons Seele - sofern er noch eine hat. Er hält das nicht aus, er kann es nicht ertragen... Blitzschnell wechselt er seine Gestalt zu der einer Möwe. Ruhig balanciert er auf dem Wind, seine Vogelaugen verfolgen, was sich unten abspielt. Pfützen aus schwarzem Blut sind am Boden - Blut seines Meisters. Der abtrünnige Valar selbst hat die Hände zu Fäusten geballt, seine Lippen zittern, Tränen der Wut und des Schmerzes glänzen auf seinen Wangen. Ruckartig saugt Sauron Luft in seine Lunge. Morgoths Beine... sind fort, jetzt fesselt Angainor seine Hände. Nein! Was hatten diese grausamen Valar da getan?! Zornig schlägt Sauron einmal mit den Flügeln, er sehnt sich danach, den Valar die Augen auszuhacken. Nicht, Ron. Die Stimme, die spricht, vibriert, ist nur ein schwaches Flüstern. Vor Schreck wäre Sauron beinahe aus dem Aufwind geflogen, auf dem er nun über den vier Gestalten kreist. Meister?!
Natürlich ich. Oh Ron, ich weiß, was sie vorhaben. Sie wollen mich in die Leere stoßen, aus der es kein Entrinnen gibt. Nicht von allein.
Sauron muss so heftig schlucken, dass er überzeugt ist, eine Feder im Schnabel zu haben. Nein..., presst er mühsam hervor. Nein, das... dürfen sie nicht tun. Meister!
Denk an dein Versprechen, Ron. Es ist alles, was wir haben., erwidert der Vala nur. Wieder schluckt der abtrünnige Maia heftig, seine telepathische Stimme versagt. Er kann nicht denken, er kann nicht atmen. Ein weiterer Schrei zieht seine Aufmerksamkeit wieder zum Boden. Hastig schaut er hin und sieht gerade noch, wie sein Meister fällt. "Sauron!!!" Ein letzter Aufschrei, ein Flehen, eine Bitte. Ein Zittern schüttelt Saurons Möwenkörper und er zwingt sich, höher zu fliegen. Manwe, Tulkas und Aule gehen. Sofort landet Sauron, verwandelt sich in seine bevorzugte Gestalt. Seine Beine versagen ihm den Dienst, er fällt auf die Knie, so heftig zitternd, dass seine roten Haare um ihn herumtanzen. "Meister.", flüstert er erstickt und begreift, dass seine Wangen nass sind. Er weint. "Meister. Nein. Meister, Meister, Meister..." Und die Rachsucht färbt sein Herz schwärzer, als es schon ist und alles, was er denken kann ist: Ich werde mein Versprechen halten! Ich werde Euch aus der Leere holen!

Alles, was wir haben || Morron OneShotWhere stories live. Discover now