Manifest eines Opfers

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Ich war noch ein Kind, als der Vampir meine Eltern tötete. Damals wusste ich nicht, weshalb er mich zurückgelassen hat. Ich wusste gar nichts. Ich war einfach nur klein, dünn, schwach und verängstigt. Wie versteinert lag ich in meinem Bett im Kinderzimmer, die Decke über den Kopf gezogen und obwohl es ohnehin binnen Sekunden absolut stickig war, hielt ich die Luft an. Ich wollte mich keinen Millimeter bewegen – wer immer da war, sollte denken ich existiere nicht. Schon bald schnappte ich verzweifelt nach Luft und bohrte mit dem Finger eine kleine Öffnung in die Decke, direkt vor meinem Mund, so dass ich die Luft dadurch inhalieren konnte. Ich hörte das widerliche Schmatzen und Kauen aus dem Schlafzimmer gegenüber. Meine Tür stand einen Spalt offen, doch ich wagte keinen einzigen Blick. Die Schreie meiner Eltern hatten mich aufgeweckt. Zuerst waren Mamas Schreie verstummt, zwei Sekunden später hörte ich auch Papa nicht mehr. Ich lauschte, während ich in meinem Bett lag und mir die schlimmsten Dinge ausmalte. Ich wusste, mit meinen Eltern war es vorbei. Das Schmatzen hörte auf und ich wartete auf mein Ende. Sicher würde der Eindringling jeden Augenblick die Decke von meinem Körper reißen und mich auffressen. So wie er es mit Mama und Papa machte. Ob es wehtun würde? Oder würde es ganz schnell gehen? Ich hatte so schreckliche Angst, dass ich am ganzen Leib zitterte. Ich hörte ein Rascheln und dann einen plumpen Aufprall, als wäre ein Körper auf dem Boden gelandet. Danach war es lange Zeit still. Ich wagte nicht, unter der Decke hervorzusehen. Ich wusste nicht, wie viel Zeit verging, deshalb begann ich im Geiste die Sekunden zu zählen. Wenn der Eindringling bei 60 nicht bei mir war, hatte er mich vermutlich gar nicht bemerkt. Als ich bei 60 ankam, verlängerte ich die Frist auf 120. Vielleicht musste er sich noch genauer in unserer Wohnung umsehen. Doch auch, nachdem ich bis 120 gezählt hatte, tat sich nichts. Ich begann wieder von vorne, denn weiter konnte ich noch nicht zählen. Plötzlich durchschnitt ein Niesen die Stille. Das war meine kleine Schwester. Sie war noch ein Baby, noch nicht einmal ein Jahr alt. Ihre Wiege stand gleich neben dem Bett unserer Eltern. Angespannt lag ich unter meinem Schutzwall aus Daunen und lauschte. Noch ein kleines Niesen aus der Wiege, doch sonst nichts. Er war weg. Wer immer meine Eltern im Schlaf überrascht und getötet hatte – denn dessen war ich mir sicher – war nicht mehr da. Dennoch lag ich stocksteif im Bett und konnte mich nicht rühren. Was würde mich im Schlafzimmer erwarten? Ich hatte so furchtbare Angst vor diesem Anblick. Und wenn sie nur ohnmächtig waren? Vielleicht konnte ich noch Hilfe rufen, bevor es zu spät war. Dieser Gedanke allein verlieh mir die Kraft langsam die Decke von meinem Kopf zu ziehen und in die Dunkelheit zu stieren. Im Flur schimmerte ein kleines grünes Nachtlicht. Ich sah durch die offene Tür die Vorhänge des Fensters flattern. Es stürmte bereits den ganzen Abend, noch bevor ich zu Bett gegangen war. Das weit entfernte Gewitter ließ den Himmel immer wieder aufleuchten. Blitze zuckten, gefolgt von grollendem Donner, durch die Finsternis. Sonst konnte ich von meinem Bett aus nichts entdecken. Es war ganz ruhig, bis auf das leise Krähen von meinem Schwesterchen, die nun ebenfalls aufgewacht schien. Ich entschloss mich zumindest sie zu retten. Woher ich den plötzlichen Mut nahm, ist mir noch immer unbegreiflich, aber ich schlug die Bettdecke bei Seite und richtete mich auf. So saß ich ein paar Sekunden in meinem Bett und starrte in hinaus aus meinem Zimmer. Es bewegte sich nichts, bis auf den Vorhang im Elternschlafzimmer. Was, wenn es gar nicht der Wind war, der die Gardinen auf und ab wallen ließ? Was wenn der Eindringling sich dahinter vor mir versteckte und nur darauf wartete, dass ich näher kam? Würde er mich packen und töten? Auffressen?

Ein erneutes Aufseufzen meiner Schwester ließ mich den Gedanken bei Seite schieben und brachte meinen Körper dazu, vom Bett aufzustehen. Langsam setzte ich einen Fuß vor den anderen und versuchte, nicht auf die herumliegenden Spielzeuge zu treten, die ich Mama bereits vor zwei Tagen versprochen hatte aufzuräumen. Dann war ich an der Tür. Von hier aus konnte ich besser in das Schlafzimmer meiner Eltern sehen. Ich erschrak, als ich Füße auf dem Boden entdeckte. Versteckte sich da jemand neben dem Bett auf dem Boden? Ich verharrte unschlüssig in meiner Position und krallte mich am Türrahmen fest. Meine Fingernägel schmerzten, so sehr grub ich sie in das Holz. Lange Zeit wartete ich ab, ob die Füße sich bewegten. Waren es überhaupt Füße oder spielten meine Augen mir einen Streich? Immerhin war es stockfinster und nur das grünliche Licht schimmerte in den Raum. Vielleicht waren es Mamas Füße, sie lag immer auf der Bettseite und konnte herausgefallen sein. Ich war auch schon mal aus dem Bett gefallen, hatte mir dann im Halbschlaf meine Decke heruntergezogen und auf dem Boden weitergeschlafen. Die Schwere in meinem Herzen war jedoch mehr als überzeugt davon, dass Mama nicht schlief. Sie war tot. Ich musste meine kleine Schwester um jeden Preis aus diesem Raum holen. Vielleicht starrte sie die ganze Zeit auf Mama und Papa und hatte Angst. So viel Angst, dass sie nicht einmal weinte. So wie ich still und starr zuvor in meinem Bett gelegen hatte.

Lichtbringer Vampire: ManifestWaar verhalen tot leven komen. Ontdek het nu