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"Grace?"

Noch im Halbschlaf hebe ich meinen Kopf vom Autositz und sehe meine Mum fragend an. Das Braun in ihren Augen glänzt bei dem wenigen Sonnenlicht, welches ins Auto hereinscheint und lässt es trüb wirken. Ich habe schon immer die Augen meiner Mutter bewundert, da sie zu verschiedenen Jahreszeiten unterschiedliche Farben annehmen. Eigentlich ist ihre Augenfarbe braun aber manchmal lässt sich auch etwas graugrün erkennen. Das ist die einzige Sache, die ich nicht von ihr geerbt habe. Meine Augen sind das ganze Jahr über grün. Einfach nur stinknormal grün.

"Wir sind da.", meint sie, schnallt sich ab und steigt aus.

Ich mache es ihr nach und muss mich kurz auf meine Knie stützen, da ich Rückenschmerzen von der Fahrt bekommen habe. Wenn man an die lange Fahrt denkt, ist das auch kein Wunder. Lang ist noch weit zu untertrieben. Es war einfach...unendlich. Bei jedem Stau hätte ich mir die Haare ausreißen können. Dann hätte ich am Ende gar keine Haare mehr. Mit dem Flugzeug wäre es viel besser gewesen und auch schneller, aber da Mums Abenteuerlust die Oberhand ergriffen hat, konnte ich nichts mehr machen. Sie wollte, dass wir auf dem Weg hierhin viel sehen und erleben, doch die meiste Zeit haben wir nur geschlafen und das was wir am meisten gesehen haben waren die Toiletten von Tankstellen. Aber gut letztendlich sind wir da.

Mehrere Einfamilienhäuser befinden sich rechts und links von der Straße, wobei einige sehr groß sind und relativ teuer aussehen. Unseres sieht im Vergleich nicht ansatzweise so gigantisch aus. Aber das haben wir auch nicht nötig, vor allem weil wir nur zwei Personen sind. Außerdem würden die anderen auch weit unser Budget überschreiten.

Die Gegend ist sehr ruhig und kein Mensch ist hier zu sehen. Irgendwie sehr vorteilhaft aber dann auch wieder langweilig. Wenn ich an unsere alte Gegend denke, wo man jeden Tag Kinder spielen gehört hat und die Nachbarn einem immer etwas Kleines rübergebracht haben, zieht sich eine Gänsehaut über meinen Körper. Für die Erdbeertorte unserer Nachbarin Doris hätte ich glatt über Leichen gehen können. Das Rezept wollte sie mir nie aushändigen, egal wie oft ich sie darum gebeten habe. Anscheinend wird das nur in der Familie weitergegeben. Da sie aber schon um die 60 ist und keine Verwandten hat, zumindest keine von denen ich etwas weiß, denn sie hat nie oft Besuch gehabt außer uns, dann bezweifele ich sehr, dass dieses leckere Rezept weitergegeben wird. Sie hat immer gemeint, die Geheimzutat wäre liebe. Ich würde zu gerne wissen, wo es diese Zutat gibt. Das würde so einige Probleme lösen.

Gedankenverloren schaue ich in die Leere. Je mehr ich an unser altes zuhause denke, desto mehr fühle ich mich hier fehl am Platz. Es hat sich aber nicht mehr nach zuhause angefühlt. Nicht nach der Sache. Schon jämmerlich. Ich fühlte mich in Portland nicht mehr zuhause und hier jetzt auch nicht. Wo gehöre ich dann hin? Mir wurde immer gesagt, dass zuhause dort ist wo man seine liebsten Personen hat, wo man seine Familie hat. Die auf einen warten, nach dem Tag fragen, Ratschläge geben, einen aufmuntern.

Früher war das auch bei mir so. Ich war beliebt, habe vollste Unterstützung von meinen Eltern bekommen. Sogar von meinen Verwandten. Ich hatte ein Leben, wofür es sich gelohnt hat zu leben. Und jetzt. Was bleibt mir jetzt? Ein Neuanfang.

Es ist unglaublich was der Verlust eines einzigen Menschen für eine Kettenreaktion hat. Welche Leere er hinterlässt.

Ich weiß mit dieser Leere nichts anzufangen. Die Welt bleibt leider nicht stehen. Das Leben geht weiter. Auch wenn es sich danach nicht mehr nach Leben anfühlt.

"Na komm jetzt schau nicht so. Nimm bitte deine beiden Koffer und stell sie im Haus ab.", sagt Mum und legt eine Hand auf meine Schulter.

Ich blicke zur ihr hoch und sehe ihr einige Sekunden in die Augen. Da die Sonne nur auf ihre eine Gesichtshälfte scheint, ist eine ihrer Pupillen braun und die andere graugrün. Schließlich nicke ich.

Deep thoughtsNơi câu chuyện tồn tại. Hãy khám phá bây giờ