Traumdiebe

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Mein Ziel liegt direkt vor mir. Ein unscheinbares Fenster eines fünfstöckigen Mehrfamilienhauses mitten in einem mittelmäßigen Viertel unserer Millionenmetropole. Nie hätte ich erwartet, dass ein hoher Richter, der die wichtigsten Urteile des Landes fällt, ein so schlichtes Heim bevorzugt. Nun, so leicht irrt man eben.

Nervös lecke ich mir über die Lippen und lasse meinen Blick über die Umgebung schweifen. Ruhig liegen die vielen Häuser vor mir, erstrecken sich wie dunkle Giganten in den Himmel, nur unterbrochen von den langen, wie Flüsse anmutenden Straßen, die in dem gelben Licht der Straßenlampen dreckig und gruselig wirken.

Mir macht das nichts aus. Die Nacht und die Dunkelheit sind meine Heimat und ich sehe sie nicht als Feind. Da gibt es ganz anderes, das ich fürchte. Die vielen, verschachtelten Ecken und unzureichend beleuchteten Gassen bergen für mich keine Orte der Gefahr, sondern der Möglichkeiten. Sie sind meine Welt und werden es wohl immer sein.

Es ist bereits vier Uhr morgens und damit der dunkelste Teil der Nacht angebrochen, der nur noch von den abertausenden Straßenlaternen erhellt wird. Aber die Behüter bewachen diese Wohnviertel am nördlichen Rand des Stadtparks sehr genau, da gerade die Einfachheit der Hochhäuser hier viele Einstiegsmöglichkeiten bietet.

Ein wahres Festmahl also für Diebe aller Art.

Und auch wenn ich es nicht gern zugebe, gehöre auch ich zu jenen unauffälligen Gestalten. Doch ich interessiere mich nicht für Schmuck, Kunst oder andere weltliche Dinge. Mein Metier ist etwas Flüchtigeres. Ich besitze eine Gabe, die nur wenige Menschen aufweisen: ich kann die Träume von schlafenden Menschen stehlen.

Kurz atme ich durch, springe von der Dachkante, auf der ich bereits eine geraume Weile saß, und greife auf der Hälfte meines Falls nach der Querstange einer Straßenlampe. Einmal muss ich einen Überschlag machen, um meinen Schwung abzufedern, bevor ich mich lautlos auf den Asphalt fallenlassen kann. Ein kurzer Blick, aber die Umgebung bleibt wie erwartet ruhig, weshalb ich schnell zu der Häuserecke gegenüber in eine einsame Gasse eile. Meine Informationen besagen, dass dort eine alte Feuerleiter hinauf bis zum Wohnzimmerfenster meines heutigen Opfers führt. Leise flattert mein Mantel hinter mir her und der Stoff, der über meinem Mund liegt und fast mein gesamtes Gesicht verbirgt, lässt meinen Atem lauter klingen, als er sollte.

Aufregung befällt mich, aber ich darf sie nicht zulassen. Wenn ich aufgeregt bin, mache ich Fehler, was wiederum tödlich enden kann. Ich habe die Gegend fast eine Stunde beobachtet und weiß daher, dass niemand auch nur ahnt, dass ich hier bin. Die Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden, ist also mehr als gering, weshalb ich mich entscheide, etwas gegen meine Unruhe zu tun.

Während ich laufe, drücke ich also auf den Startknopf meines MP3-Players und sofort hämmert mir ein schneller Bass ins Ohr. Kein anderes Geräusch dringt mehr durch die Musik, aber gerade das beruhigt mich. Denn wenn mich etwas nervös macht, dann ist es Stille.

Ich erreiche die Hausecke und die angrenzende Gasse. Sie ist äußerst schmal und nicht für häufige Passagen gedacht, sondern nur um einen Weg zu den Hinterhöfen zu ermöglichen und den Bewohnern eine Abstellmöglichkeit zu bieten. Tatsächlich schraubt sich hier zwischen Abfallbehältern und einer einzelnen, flackernden Straßenlampe eine Feuerleiter die Mauer hinauf. Zwar liegt die erste Sprosse in gut drei Metern Höhe, aber das hält mich nicht auf. Ohne langsamer zu werden, sprinte ich zu einem der Behälter und springe über ihn auf die Mauer zu. Sie als weiteren Trittstein nutzend, erreiche ich die Sprosse und ziehe mich geschickt daran hoch. Auch wenn ich durch die Musik nichts höre, weiß ich, dass ich dabei nicht das leiseste Geräusch verursache. Schließlich bin ich die Beste meines Faches, sonst hätte mir Saphir diesen Auftrag nicht zugeteilt. Geschwind erklettere ich die Leiter, blicke mich noch einmal kurz um und schiebe dann vorsichtig das Fenster auf.

Azur - Wenn eine Diebin liebtWhere stories live. Discover now